Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
einer Zeit immer wieder Kinder abhanden, und kein Mensch kann sich erklären, warum. Zumeist sind es Säuglinge, aber auch ein paar ältere werden vermisst. Sie werden an unterschiedlichen Stellen geraubt, zu jeder Tages- und Nachtzeit, es gibt kein klares Muster. Ein Kleinkind verschwand vor den wachsamen Augen seiner Mutter. Niemand kann sagen, wie oder warum es geschieht, aber man ist sicher, dass es sich nicht um das Werk gewöhnlicher Sklavenhändler handelt. Eine Zeugin beschrieb ein schmutziges, verwahrlostes junges Mädchen, das unmittelbar vor dem Verschwinden ihres Kindes auftauchte, aber ihre Identität ist unbekannt, und selbst die stärksten Hexen und Hexer können keine Verbindung zu diesem Mädchen herstellen. Für ihre magischen Kräfte ist es, als hätte sie nie existiert.
Familien gehen dazu über, die Kinder im Haus einzuschließen, doch selbst das bietet keine Sicherheit; ein Mann kam nach Hause und fand seine Frau in einem todesähnlichen Schlaf. Seine kleine Tochter war nicht mehr da …
Er hörte auf zu lesen. Sein Gesicht war ernst.
»Du siehst einen Zusammenhang zwischen den beiden Meldungen«, schlussfolgerte Gwynofar.
»Es wäre eine unglaubliche Fügung, wenn es anders wäre, findest du nicht?« Er schob die Briefe wieder zusammen. »Was meinst du, sucht sie nach Nahrung? – Aber nein, wozu sich die Mühe machen? Seelenfresser brauchen einem Menschen nicht körperlich nahe zu kommen, um ihm die Lebenskraft zu entziehen, und wenn eine Königin Appetit auf Menschenfleisch hätte … da gibt es sicher einfachere Möglichkeiten.«
Schwache Erinnerungen flimmerten durch sein Gehirn. Er schloss die Augen und versuchte, sie scharf zu stellen. »Es gab in der Regierungszeit meines Vaters gewisse Unregelmäßigkeiten in dieser Region. Cresel hat mir davon erzählt, als ich zurückkehrte. Da ging es um eine Stadt, in der alle Bewohner verschwanden oder starben … ich weiß es nicht mehr genau … Aber ich bin ziemlich sicher, dass es dieselbe Gegend war. Was immer da draußen ist, könnte also schon länger sein Unwesen treiben.«
»Laut Favias glauben die Heiligen Hüter, die Invasion der Seelenfresser hätte schon vor einiger Zeit begonnen. Auf jeden Fall mit Beginn des Frühjahrs.«
»Gleich nachdem sich der Himmel rot färbte«, überlegte Salvator laut. »Weißt du noch? Die Wolken im Norden wurden bei Sonnenuntergang tief rot, als würde der Himmel bluten. Unsere Priester erklärten, das sei ein Zeichen Gottes, aber sie konnten sich nicht einigen, was es zu bedeuten habe. Und nun sagst du, dass diese Ungeheuer etwa um diese Zeit in die Reiche der Menschen eingedrungen sein könnten. Die bösen Vorzeichen würden immerhin zu den Seelenfressern passen.« Er schüttelte frustriert den Kopf. Die Mosaiksteinchen wollten einfach kein Bild ergeben. »Aber warum? Warum Kinder ? Nirgendwo in den alten Mythen findet sich der kleinste Hinweis auf ein solches Geschehen.«
Gwynofar holte tief Luft. »Vielleicht kann Ramirus etwas dazu sagen.«
Salvator zuckte zurück. »Ein Magister? Nein danke.«
»Er weiß viel über diese Kreaturen. Und einige seiner Standesgenossen wissen noch mehr. Er ist uralt, Salvator, er lebte schon, als sich die Menschen noch Geschichten aus der Zeit des Großen Krieges erzählten …«
» Nein , Mutter.« Das klang entschieden. »Ich habe mich deinetwegen bereit erklärt, ihm mit Höflichkeit zu begegnen, ich habe ihn sogar in mein Haus aufgenommen, aber glaube bitte nicht, dass ich mich mit ihm abgefunden hätte.«
»Es ist töricht, eine nützliche Informationsquelle aus religiösen Vorurteilen heraus abzulehnen.«
Das machte ihn wütend. »Es sind nicht nur Vorurteile , Mutter. Seine Macht ist verdorben, und ein Mann, der eine solche Macht einsetzt, ist zweifach verdorben. Alles, was er anfasst, wird unrein.«
»Das ist deine Meinung.«
»Es ist eine Tatsache.«
Sie funkelte ihn an. »Wie die ›Tatsache‹, dass die Lyr -Gabe nichts anderes sei als ein Hirngespinst von Götzendienern? Hier irrte deine Kirche. Sie könnte auch darin irren.«
Er biss die Zähne zusammen und schwieg.
»Salvator, bitte.« Sie ging auf ihn zu und nahm seine beiden Hände in die ihren. Wie winzig, wie zart ihre Finger waren! Und dennoch hatten sie genügend Kraft, um einem Mann die Knochen zu zerdrücken. Ein abscheulicher Frevel, bei dem sich ihm der Magen umdrehte. »Ich weiß, dass du tief im Inneren vernünftig denkst und nichts ungeprüft übernimmst, nicht einmal in
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