Die Seelenzauberin
unerreichbar.
Der Gardist setzte es an die Lippen und blies hinein.
Ein schriller Ton hallte von den Steinwänden wider und schallte hinab in den Hof der Zitadelle. Sogleich strömten Männer aus allen Türen, schnappten sich ihre Waffen und rannten auf den Turm zu. Wer oder was hinter dem Angriff steckte, er würde bald feststellen, dass er in der Falle saß. Wenn der Zugang nach oben zum Beobachtungsstand versperrt war und zugleich der Turm von unten gestürmt wurde, konnte sich der Eindringling nicht lange halten. Die Alkalier brauchten die beiden Krieger nur noch so lange zu beschäftigen, bis die Verstärkung eintraf, alles Übrige fände sich dann von selbst.
Der Alkalier ließ das Horn fallen, hob mit einem lauten Kampfschrei sein Schwert und stürzte sich wieder ins Getümmel.
Das Alarmsignal schallte durch den Felsturm. Rhys stieß einen leisen Fluch aus und stieg eine halbe Treppenwindung hinunter. Dort konnte er durch eine schmale Spalte auf einen Teil des Zitadellenhofes sehen. Der Anblick entlockte ihm einen weiteren Fluch.
Man hatte ihnen den Zugang zum obersten Raum endgültig versperrt. Drei Männer hatten versucht, sich den Weg durch den schmalen Eingang zu erkämpfen; einer war vermutlich tot, die beiden anderen hatten sich schwer verwundet zurückziehen müssen. Mit der Zeit könnten die Männer, denen es gelungen war, in den Beobachtungsstand einzudringen, eine Möglichkeit finden, auch für ihre Brüder eine Lücke zu schaffen, aber so viel Zeit hatten sie nicht mehr.
Wie langsam sich die Welt in diesem Augenblick bewegte. So langsam, dass Rhys zu seinen Kameraden hinaufschaute und ihnen mit diesem einen stummen Blick alle Möglichkeiten mit sämtlichen denkbaren Folgen vermitteln konnte. Im Zeitraum eines einzigen Atemzugs wurde jedes Vorgehen abgewogen, jeder Ausgang bewertet.
Wenn kein Wunder geschah, würden sie diesen Turm nicht lebend verlassen.
Von unten drangen neue Geräusche herauf. Stimmen. Schritte. Schwerter wurden klirrend aus der Scheide gezogen. Alles hallte durch das Treppenhaus wie durch ein Grabmal.
Es darf nicht so enden , dachte Rhys.
Gwynofar war bleich geworden. Auch sie verstand ohne Worte, was geschehen war. Und auf welches Schicksal sie unausweichlich zusteuerten.
Vielleicht würde man sie sogar verschonen , dachte Rhys. Vielleicht nahm man sie gefangen, weil man sie für ein wertvolles Gefäß hielt, aus dem man mithilfe von Magistern, wenn schon nicht durch gewöhnliche Folter, alle Geheimnisse der Gruppe herauspressen konnte. In dem großen Krieg, der erst noch kommen würde, wäre sie eine wertvolle Geisel, man könnte sie gegen ihr eigenes Volk einsetzen, um dessen Kräfte und Entschlossenheit zu untergraben.
Er sah ihre Hand zu dem Messer an ihrem Gürtel wandern. Ihr Blick verriet ihm, was sie vorhatte.
Geliebte Schwester, du hast nicht weniger Mut als jeder dieser Krieger.
Dann bemerkte er das Fenster, unter dem sie stand. Es war eines von den größeren, eine tiefe Spalte, fast mannshoch, aber viel zu schmal, als dass ein Mann sich hätte hindurchzwängen können. Eine schlanke Frau könnte es jedoch schaffen. Mit Mühe.
Sie folgte seinem Blick. Das letzte Blut wich ihr aus den Wangen. »Rhys …«
Die Geräusche von unten kamen näher. Zu nahe. Die Männer nahmen Verteidigungsstellung ein. Als ob sie mehr tun könnten, als das Unvermeidliche hinauszuzögern.
»Es ist die einzige Möglichkeit«, sagte er.
»Aber du …«
»Mein Schicksal liegt hier«, erklärte er. »Das deine muss sich erst noch erfüllen.«
Lass uns nicht umsonst sterben.
Sie nickte, als hätte sie seinen Gedanken gehört. Er sah sie zittern, aber sie setzte ohne Zögern den Fuß in seine gefalteten Hände und ließ sich hinaufheben. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber dafür reichte einfach die Zeit nicht mehr. Die Geräusche von unten waren schon zu nahe.
Noch ein flüchtiger Kuss auf seine Stirn, dann trat sie an die Öffnung.
Rhys sah nicht hin, als sie sich durch den schmalen Spalt nach draußen schob. Zeitverschwendung. Wenn sie heil entkommen sollte, musste er für Ablenkung sorgen. Er musste verhindern, dass der Feind hier oben eintraf, solange sie noch zu sehen war.
Grimmig winkte er die anderen Hüter zu sich. Kein Wort war nötig. Sie hatten ihn alle verstanden.
Früher hätte er zuvor noch ein Gebet gesprochen. Damals hatte er noch geglaubt, irgendeine höhere Macht achte auf solche Anrufungen und kümmere sich darum, was mit ihm geschah. Jetzt
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