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Die Seelenzauberin

Die Seelenzauberin

Titel: Die Seelenzauberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Celia Friedman
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der Hülle griff; allem Anschein nach hatte sie seit Jahren niemand mehr berührt. Gwynofar packte mit beiden Händen zu und zerrte daran, so fest sie konnte. Der Staub stieg in dicken Wolken auf, reizte sie zum Husten und raubte ihr zunächst jede Sicht.
    Doch dann setzte er sich ab, und vor ihr stand der Thron der Tränen in seiner ganzen finsteren Pracht.
    Majestätisch, stilvoll und zugleich ungemein grotesk; schon der Anblick jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Auf den ersten Blick schien der Stuhl aus glänzendem Ebenholz gefertigt, aber wo die Sonnenstrahlen darüber spielten, erzeugten sie bläuliche Reflexe, die sich wie Ölpfützen auf der Oberfläche sammelten. Sitz und Lehne waren mit glattem Leder der gleichen Farbe überzogen und schimmerten, als wären sie nass. Armlehnen und Füße endeten in Tierpfoten, die faustgroße Kugeln umfassten, doch anstelle von hölzernen Klauen hatte man gewölbte elfenbeinfarbene Zähne eingesetzt, die zu dem schwarzen Kristall der Kugeln in krassem Gegensatz standen.
    Und erst die Schwingen. Sie umflatterten die Lehne wie Seidenschleier, die in der Bewegung erstarrt waren: unglaublich zart, von grausiger Schönheit. Sie filterten die Sonnenstrahlen wie Buntglas und warfen schillernde Flecken auf Wände, Boden und Decke.
    Gwynofar stand wie gebannt vor dem schrecklichen Kunstwerk. War das wirklich die letzte Hoffnung ihres Volkes? Schon die Vorstellung, welche Macht in einer solchen Schöpfung enthalten sein mochte oder welchen Preis es kosten würde, diese Macht zum Leben zu erwecken, ließ sie erzittern. Aber sie hatte keine andere Wahl. Menschen hatten ihr Leben hingegeben, um ihr diese Gelegenheit zu verschaffen; sie konnte sie nicht enttäuschen.
    Mit einem tiefen Atemzug bestieg sie den steinernen Sockel unter dem unheimlichen Thron, flüsterte ein letztes Gebet und wappnete sich für alles, was die Götter von ihr fordern mochten. Dann nahm sie auf der riesigen Sitzfläche Platz und ließ die Hände über die Armlehnen gleiten, bis ihre bleichen Finger zwischen die glänzenden Zähne glitten und die schwarzen Kristallkugeln umfassten.
    Nichts geschah.
    Alle Gefahren der vergangenen Tage hatten ihr nicht so viel Entsetzen eingeflößt wie dieser einzige Moment des Scheiterns. Die vielen Vorbereitungen, die nötig gewesen waren, um sie hierherzubringen, die Menschenleben, die man bei der Reise aufs Spiel gesetzt und womöglich verloren hatte – sollte alles umsonst gewesen sein? Nein , dachte sie wild entschlossen. Trotzig. Das kann nicht sein! Sie umfasste die Armlehnen des Throns noch fester, drückte mit beiden Händen zu, als wollte sie das groteske Möbelstück zwingen, ihr zu antworten. Doch es geschah immer noch nichts.
    Woran konnte es liegen? War sie doch nicht die richtige Kandidatin? Hatte die uralte Magie im Lauf der Zeit ihre Kraft verloren? Oder hatten sie die Weissagung falsch gedeutet?
    Unter der Falltür waren gedämpfte Geräusche zu hören. Kamala war es gelungen, den Eisenriegel vorzuschieben, aber er würde nicht ewig standhalten. Wenn bewaffnete Männer entschlossen genug dagegen anrannten, konnten sie sicherlich durchbrechen.
    Wie war der genaue Wortlaut der Weissagung gewesen? Gwynofar versuchte sich mühsam zu erinnern:
    Erbe im Gleichgewicht. In einem vereint
    Thronen im Adlerhorst alle Sieben
    Auf Schwinge und Gebein …

    »Blut«, sagte der Vogel unvermittelt.
    Kamala hat recht , dachte Gwynofar. Das Erbe der Lyr wurde in Blut bemessen; es wäre ein passendes Opfer.
    Sie zog ihre verletzte Handfläche über eine Klauenspitze; die Haut riss erneut auf, Blut quoll hervor. Sie ließ ein paar Tropfen auf die Klauen und die schwarzen Kugeln fallen. Auf den Sitz. Auf die Lehne. Sie suchte sich die Schnitzereien aus, die sich für ein Blutopfer eignen mochten, und bestrich sie mit ihrem Lyr -Blut. Dabei betete sie zu den Göttern. Doch was sie auch tat, es zeigte keine Wirkung. Nicht einmal, als sie sich hinterher wieder auf den blutigen Stuhl setzte und ihn mit all ihren magischen Kräften zu einer Reaktion zu zwingen suchte. Vergebens.
    Die Stimmen von unten waren lauter geworden. Es waren alkalische Stimmen, und sie kamen näher und näher.
    Die Enttäuschung trieb ihr die Tränen in die Augen – die Enttäuschung und die Angst. Musste sie womöglich ihr Leben opfern, um die Geheimnisse des Throns zu entschlüsseln? War das der Sinn der Prophezeiung? Es war die einzige Möglichkeit, die ihr noch einfiel.
    »Schön!«, stieß sie

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