Die Seelenzauberin
den Dienst zu versagen. »Was war das eben?«
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte Amalik, ohne sich umzudrehen.
Er führte sie auf einem schmalen Steig, den kein Pferd jemals hätte bewältigen können, über einen Bergrücken und weiter zu einem zweiten, der noch höher war. Während sie noch unterwegs waren, ertönte abermals der sonderbare Schrei. Diesmal klang er lauter und klarer, und Siderea glaubte, so etwas wie Zorn herauszuspüren. Eine blinde, animalische Wut, die vom Himmel widerhallte. Amalik tat so, als hätte er nichts gehört, und kletterte einfach weiter. Siderea nahm sich ein Beispiel an ihm, aber das Herz klopfte ihr zum Zerspringen.
Das ist also unser Ziel , dachte sie. Deshalb muss das »Geheimnis« fernab aller menschlichen Siedlungen verborgen werden. Damit niemand diese Schreie hören kann. Zum ersten Mal seit Amaliks Besuch bekam sie es wirklich mit der Angst zu tun. Aber das durften die Männer auf keinen Fall merken. Es hätte ihnen zu viel Macht über sie gegeben.
Dann hatten sie die letzte Anhöhe erklommen und blieben in feierlichem Ernst auf dem höchsten Punkt stehen.
…
Und sie sah es.
Genau vor ihr erstreckte sich, weiter als das Auge reichte, nach beiden Seiten eine schmale Schlucht. Der Fluss, der sich vor einer Ewigkeit hier durch den Fels gegraben hatte, war längst versiegt. Die Wände ragten steil, fast senkrecht auf und waren an der breitesten Stelle nur wenige Meter voneinander entfernt. Ein abscheulicher Geruch nach Fäulnis und verwesendem Fleisch und anderen widerlichen Dingen drang aus der Tiefe empor, und sie hörte ein leises Klagen, das sie erschauern ließ, als kratzte jemand mit den Fingernägeln über eine Schiefertafel. Was im Namen aller Höllen befand sich da unten?
Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und wäre davongelaufen, aber damit hätte sie Schwäche gezeigt, und das kam nicht infrage. Die Götter allein wussten, was Amalik hier mit ihr vorhatte, aber wenn die Lage bedrohlich wurde, musste sie ihre fünf Sinne beisammenhaben. Sie trat ein paar Schritte zur Seite, um etwas Abstand von den Männern zu gewinnen. Eine kleine Vorsichtsmaßnahme. Dann raschelte es in den Tiefen der Schlucht, und sie machte noch ein paar Schritte mehr, beugte sich vor, so weit es ging, und schaute hinab.
Siderea wusste nicht, was es war, aber es war groß und dunkelhäutig und über und über mit Schmutz bedeckt. Nun stieß es einen schrecklichen Schrei aus, der ihr durch Mark und Bein ging: Hass und Wut, Schmerz und Hunger sprachen aus diesem schier unerträglichen Kreischen. Ohne Rücksicht auf die Gefahr schob sich Siderea noch näher, so nahe wie irgend möglich, an den Rand des Abgrunds heran, um das Wesen deutlicher sehen zu können. Die Männer blieben hinter ihr auf dem Grat; vielleicht hatten sie begriffen, dass sie sofort zurückweichen würde, wenn sie Anstalten machten, sich ihr zu nähern. Das Wesen wankte in der Schlucht mal hierhin, mal dorthin und geriet dabei immer wieder in die Schatten. Dabei machte es seltsame Geräusche. Sie sah, dass ihm vorne und hinten große Steinlawinen den Weg versperrten. Hier und dort säumten Knochenhaufen seinen Weg, und an einer Stelle lagen verwesende Überreste, vermutlich von einem Pferd. Daher kam also der Fäulnisgeruch. Seltsamerweise waren keine Fliegen zu sehen. In den üblen Gestank mischte sich ein süßlicher Moschusduft, den sie nicht gleich zuordnen konnte. Dann erkannte sie, dass ihr derselbe Geruch von einem ihrer Bewacher entgegengeschlagen war. Die Sache wurde immer eigenartiger.
Sie drehte sich zur Seite, um noch mehr sehen zu können. Das Wesen schien ziemlich groß zu sein, aber es hielt sich genau unter ihr dicht an der Wand, sodass sie es nicht ganz in ihr Blickfeld bekam. Immerhin unterschied sie einen langen schwarzen Schwanz, der bei jedem Schritt zuckte; vielleicht handelte es sich um eine Riesenechse? Sie hatte gehört, dass es solche Tiere in anderen Ländern gab, aber nicht so nahe an ihrer Heimat. Und was hatten sie mit Zauberkräften zu tun? Reptilien waren doch keine Hexen.
Doch dann geriet das Wesen bei seinem hektischen Auf und Ab in einen Streifen Sonnenlicht, und Siderea konnte es endlich in seiner ganzen Größe betrachten.
»O ihr Götter!«, flüsterte sie erschrocken und taumelte so jäh zurück, dass sie fast gestürzt wäre. Aus Mythen, die sie gehört, und alten Wandmalereien, die sie gesehen hatte, erkannte ein Teil ihres Bewusstseins, was sie da vor sich hatte; doch eine
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