Die Sehnsucht der Pianistin
möglich, wenn sie in ihrem Zimmer saß und einsam vor sich hin brütete.
Als Vanessa hinunterging, hörte sie leise Musik aus der Küche. Ihre Mutter hatte schon immer lieber Pop als klassische Musik gehört, worüber Vanessas Vater stets ungehalten war. Vanessa erkannte einen alten Presley-Song, weich und ein wenig schmalzig. Sie folgte der Musik und blieb in der Tür zum ehemaligen Musikzimmer stehen.
Der große alte Flügel, der früher den ganzen Raum beherrscht hatte, war fort, ebenso wie der mächtige alte Schrank mit der umfangreichen Plattensammlung. Jetzt standen hier zierliche kleine Stühle mit gestickten Kissen. In einer Ecke entdeckte sie einen wunderschönen alten Servierwagen und darauf eine üppige Grünpflanze. An den Wänden hingen gerahmte Aquarelle, und vor den beiden Fenstern lud ein geschwungenes viktorianisches Sofa zum Sitzen ein.
Den Mittelpunkt aber bildete ein kostbares Rosenholzklavier. Wie magisch angezogen ging Vanessa darauf zu. Spielerisch schlug sie die ersten Akkorde einer Chopin-Etüde an. Am Anschlag der Tasten merkte sie, dass das Klavier brandneu war. Hatte ihre Mutter es gekauft, nachdem sie den Brief ihrer Tochter bekommen hatte? War dies eine Geste, ein Versuch, die Kluft von zwölf Jahren zu überbrücken?
So einfach würde es aber nicht sein. Vanessa rieb sich über die Augen, denn sie spürte einen beginnenden Kopfschmerz. Sie wussten beide, dass es vieles zu überwinden galt.
Sie wandte sich ab und ging in die Küche.
Loretta hatte einen Salat gemacht und füllte ihn gerade in eine blassgrüne Schüssel. Vanessa erinnerte sich, dass ihre Mutter sich schon immer gern mit schönen Dingen umgeben hatte. Das sah man auch jetzt an den hübschen Spitzensets auf dem Tisch, der blassrosa Zuckerdose und der Sammlung von Glasfiguren in einer offenen Vitrine. Loretta hatte das Fenster geöffnet, und eine leichte Frühlingsbrise spielte mit den blitzsauberen Gardinen über der Spüle.
Als Loretta sich umdrehte, sah Vanessa, dass ihre Augen gerötet waren. Aber sie lächelte, und ihre Stimme war klar. „Ich weiß, du sagtest, du seist nicht hungrig, aber ich dachte, vielleicht magst du ein Schüsselchen Salat und Eistee.“
Vanessa lächelte mühsam. „Danke. Das Haus ist sehr schön. Es kommt mir irgendwie größer vor. Ich dachte immer, alles wirkt kleiner, wenn man älter wird.“
Loretta stellte das Radio ab. Vanessa bedauerte es, denn jetzt waren sie mit dem einsetzenden Schweigen allein. „Hier gab es früher zu viele dunkle Farben“, sagte Loretta. „Und zu viele schwere Möbel. Manchmal hatte ich das Gefühl, darunter begraben zu sein.“ Sie unterbrach sich verwirrt. „Ich habe ein paar Stücke aufgehoben, vor allem die, die deiner Großmutter gehörten. Sie stehen auf dem Dachboden. Ich nahm an, du möchtest sie vielleicht eines Tages haben.“
„Schon möglich“, sagte Vanessa beiläufig. Sie setzte sich, während ihre Mutter den bunten Salat servierte. „Was hast du mit dem Flügel gemacht?“
„Verkauft.“ Loretta griff nach der Teekanne. „Vor Jahren schon. Wozu sollte ich ihn behalten, wenn doch niemand darauf spielte? Außerdem habe ich ihn immer gehasst.“ Sie zuckte zusammen und stellte die Teekanne hin. „Tut mir leid.“
„Keine Ursache. Ich verstehe es ja.“
„Nein, das glaube ich nicht.“ Loretta sah sie offen an. „Ich glaube, das kannst du nicht.“
Vanessa war noch nicht bereit für eine Aussprache. Schweigend nahm sie die Gabel.
„Ich hoffe, das neue Klavier gefällt dir. Ich verstehe nicht viel von Musikinstrumenten.“
„Es ist wunderschön.“
„Der Mann, von dem ich es gekauft habe, hat mir versichert, dass es das Nonplusultra ist. Ich weiß, dass du üben musst. Deshalb dachte ich … Wie dem auch sei, wenn es dir nicht gefällt, brauchst du nur …“
„Es ist ausgezeichnet.“ Sie aßen schweigend, bis Vanessa das Gespräch wieder aufnahm. „Die Stadt sieht genauso aus wie früher“, begann sie in höflichem Plauderton. „Wohnt Mrs. Gaynor noch immer an der Ecke?“
„Ja, sicher.“ Erleichtert nahm Loretta den Faden auf. „Sie ist jetzt fast achtzig und geht jeden Tag zur Post, egal ob es regnet oder nicht. Die Breckenridges sind weggezogen, das muss jetzt etwa fünf Jahre her sein. Ihr Haus hat eine nette Familie gekauft. Sie haben drei Kinder. Das jüngste kommt dieses Jahr in die Schule. Das ist vielleicht ein aufgeweckter kleiner Bursche! Erinnerst du dich noch an Rick, den Jungen der Hawbakers? Du
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