Die Sehnsucht der Pianistin
hätte sie ihm am liebsten noch einen Hieb versetzt. „Mutter hat nichts davon gesagt, dass du in der Stadt bist.“
„Ich bin aber hier. Schon fast ein Jahr.“ Den umwerfenden Schmollmund hat sie immer noch, dachte er und wusste, dass das für sein Seelenheil nicht gut sein würde. „Darf ich mir die Bemerkung erlauben, dass du fantastisch aussiehst, oder begebe ich mich damit wieder in Gefahr?“
Sich auch in heiklen Situationen in der Gewalt zu haben war eines der Dinge, die sie im Laufe der Jahre gelernt hatte. Vanessa setzte sich und strich umständlich ihren Rock glatt. „Tu dir keinen Zwang an.“
„Also gut. Du siehst fantastisch aus. Vielleicht ein bisschen zu dünn.“
Das Schmollen wurde noch ausgeprägter. „Ist das Ihre ärztliche Diagnose, Dr. Tucker?“
„Offen gestanden, ja.“ Er nahm die Gelegenheit wahr, sich neben sie auf den Klavierschemel zu setzen. Ihr dezenter Duft erinnerte ihn an eine laue Mondnacht. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, und das störte ihn. Obwohl sie neben ihm saß, wusste er doch, dass sie für ihn unerreichbar war.
„Du siehst auch gut aus“, sagte sie und wünschte, dass es nicht wahr wäre. Er war noch immer so schlank und athletisch wie in seiner Jugend. Sein Gesicht war zwar nicht mehr so glatt, dafür aber umso männlicher. Sein dunkles Haar war noch immer dicht, und seine Wimpern waren so lang wie eh und je. Und seine Hände waren noch immer so sehnig und kraftvoll wie damals, als sie sie zum ersten Mal berührt hatten. Aber das war in einem anderen Leben gewesen.
„Meine Mutter erzählte mir, dass du eine gute Position in New York hast.“
„Das war einmal.“ Er kam sich vor wie ein Schuljunge, nein, eher noch unsicherer. Vor zwölf Jahren hatte er genau gewusst, wie er sie behandeln musste. Zumindest war er davon überzeugt gewesen. „Ich bin zurückgekommen, um meinem Vater in der Praxis zu helfen. Er möchte sich in einem oder zwei Jahren zur Ruhe setzen.“
„Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Du zurück in Hyattown und Doc Tucker als Pensionär!“
„Die Zeiten ändern sich nun mal.“
„Ja, das stimmt.“ Sie konnte nicht neben ihm sitzen. Das ist ja albern, dachte sie, stand aber trotzdem auf. „Es fällt mir sehr schwer, mir dich als Arzt vorzustellen.“
„Das habe ich auch gedacht, als ich mich durchs Studium rackerte.“
Neugierig musterte Vanessa ihn. Er trug Jeans, ein Sweatshirt und Joggingschuhe – dasselbe Outfit wie auf der Highschool. „Du siehst gar nicht aus wie ein Arzt.“
„Soll ich dir mein Stethoskop zeigen?“
„Nicht nötig.“ Sie schob die Hände in die Rocktaschen. „Wie ich höre, hat Joanie geheiratet.“
„Ja, und ausgerechnet Jack Knight. Erinnerst du dich an ihn?“
„Ich glaube nicht.“
„In der Highschool war er eine Klasse über mir. Ein Footballstar. War ein paar Jahre Profi, doch dann haben sie ihm das Knie zusammengetreten.“
„Ist das vielleicht eine medizinische Ausdrucksweise?“
„Kommt der Sache aber am nächsten.“ Er grinste ihr zu. Die kleine Ecke an seinem Vorderzahn war noch immer abgesplittert, was sie schon als junges Mädchen so attraktiv gefunden hatte. „Joanie wird ganz aus dem Häuschen sein, dich wiederzusehen, Vanessa.“
„Ich freue mich auch darauf.“
„Ich habe nachher noch ein paar Patienten, werde aber so gegen sechs Uhr fertig sein. Wollen wir dann zusammen essen und anschließend hinaus auf die Farm fahren?“
„Ich glaube nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil du mich bei unserer letzten Verabredung zum Dinner – und zum Abschlussball – versetzt hast.“
Er schob die Hände in die Hosentaschen. „Du bist aber nachtragend.“
„Ja.“
„Ich war achtzehn, Vanessa, und ich hatte einen triftigen Grund.“
„Der jetzt wohl kaum noch eine Rolle spielt.“ Sie spürte wieder das Brennen im Magen. „Tatsache ist, dass ich nicht dort weitermachen will, wo wir vor Jahren aufgehört haben.“
Nachdenklich sah er sie an. „Das war auch nicht meine Absicht.“
„Dann ist es ja gut.“ Zum Teufel mit ihm. „Wir leben beide unser eigenes Leben, Brady, und dabei wollen wir es belassen.“
Er nickte langsam. „Du hast dich mehr verändert, als ich dachte.“
„Ja, das habe ich.“ Sie ging zur Tür, blieb stehen und sah über die Schulter zurück. „Das haben wir beide. Ich denke, du findest allein wieder hinaus.“
„Ja“, murmelte er, nachdem sie schon gegangen war. Er kannte den Weg zur Haustür. Womit er nicht gerechnet
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