Die Sehnsucht ist größer
Durcheinander trägt die Pilgersolidarität. Doris, David und Martin sind da, er war in den letzten Tagen eine Dreiviertelstunde hinter uns.
Ganz allein heute abend in dieser Stadt - ich wäre verloren.
Ich bin noch sprachlos, wortlos in dieser Nacht.
Santiago, 14.00 Uhr
Heute in der Pilgermesse hat es mich gepackt... es war beeindruckend, die wunderschöne, dunkle Kirche, der erleuchtete Altarraum, die Menschen, die an der Jakobusfigur vorbeizogen und den Apostel umarmten, das Spiel der Orgel,...
Für mich war es wichtig, daß zwei Pilgergefährtinnen der letzten Tage eine Fürbitte vortrugen, die Schwedin und eine aus der italienischen Gruppe, daß Christiane, Doris, David und ich nebeneinander saßen.
Als sie dann das große Rauchfaß hochzogen und 25 Meter quer durch die Kirche schwenkten, da war es endgültig um mich geschehen. Ich konnte nicht mehr Sitzenbleiben, ich mußte aufstehen - und mir kamen die Tränen. In dem Moment ließ endlich die Spannung etwas nach...
Wir sind gestern ein ziemlich scharfes Tempo gelaufen. Irgendwie wollten wir beide ankommen. Wir haben nicht viel miteinander gesprochen, jede war bei sich. Die Strecke selbst war nicht so spannend, auf den ersten Kilometern waren die Kilometersteine noch willkommene Wegbegleiter - um dann bei Kilometer 12 ganz aufzuhören.
Der Monte del Gozo, der Berg der Freude, war eine Enttäuschung. Eine seltsame Plastik, übermannshohe Skulpturen vom Papst, ein verwirrender Blick auf Santiago. Und auch unsere Hoffnung auf das wohlverdiente »Ankommbier« wurde enttäuscht. Auch das Pilgerzentrum dort wirkt auf uns eher ausladend - in der doppelten Bedeutung des Wortes.
Santiago selbst kommt uns freundlich entgegen, kaum Industrie, relativ bald ruhige Straßen, faszinierende Bauten. Als wir schließlich vor der Kathedrale stehen, verstummen wir beide. Wir gehen auf die andere Seite des Platzes hinüber, setzen die Rucksäcke ab, lehnen uns an eine der Säulen, rauchen eine Zigarette und schauen einfach nur. In mir ist ganz, ganz viel — aber mir fehlen die Worte dafür.
Dann gehen wir in die Kathedrale hinein - das Kirchenschiff wirkt bergend, umhüllend, mystisch auf mich - aber auch ein wenig fremd. Ich bin fast wie in Trance. Irgendwie bekomme ich gar nicht so richtig mit, was da eigentlich geschieht. Ich stelle mich in die Reihe derer, die ihre Hand in die Einkerbungen der Säule des Portals legen wollen - finde mühelos die Stelle für die Finger, die unzählig viele Pilger vor mir in den Stein gegriffen haben - fast ist mir, als schmiegt sich der Stein mir entgegen. Ich neige den Kopf auf die Steinskulptur des Baumeisters dieser Kirche - und gehe schließlich zwei Schritte ins Kirchenschiff hinein. Hinter mir, im Halbdunkel, sehe ich die beiden Belgier - und es tut gut, sie zu sehen. Irgendwas bannt mich, ich kann und will jetzt nicht weiter in diese Kirche gehen, ich kann sie nicht anschauen, ich kann mich jetzt nicht hinsetzen - ich bin ganz tiefbewegt.
Ich verständige mich kurz mit Christiane, der es wohl ähnlich geht. Als wir die Kirche verlassen, trippelt eine weiße Taube ganz zutraulich umher. In dem Moment bin ich nicht mehr bereit, noch irgendwas irgendwie zu deuten, es reicht an Eindrücken, und so greife ich zum letzten Mittel, um etwas nicht über das Maß hinaus an mich herankommen zu lassen: Ich fotografiere.
Diese Momente vor und in der Kathedrale verlangen jetzt ihr handfestes Gegengewicht - und so machen wir uns auf die Suche nach dem Pilgerbüro, um nun auch ganz amtlich unsere Wallfahrt bestätigen zu lassen. Ob ich es dann glauben werde, wenn ich es schwarz auf weiß besitze? Immerhin - der Versuch ist es wert.
Und dann Tourist-Information, Hotel suchen, duschen, weißes Sweat-Shirt,...
Das Hotel kommt uns von alleine entgegen, 100 Meter hinter der Kathedrale - und wir ergreifen die Gelegenheit beim Schopf. Zwei Einzelzimmer für drei Nächte - alles bestens. Im Pilgerbüro, wo die Compostela ausgestellt wird, die Wallfahrtsurkunde, begrüßt uns ein riesenlanger Spanier. Der Santiago-Stempel, mal wieder eine Liste zum Einträgen »aus welchen Gründen...?«, eine Urkunde, ein bißchen größer als DIN A 4-Format, auf lateinisch. Dann werden wir in ein anderes Zimmer gebeten, wo uns ein priesterlich aussehender Herr dreimal die Hand schüttelt, beglückwünscht, willkommen heißt und dann wieder verabschiedet. Etwas verdutzt stehen wir schließlich wieder vor der Tür - und wissen nicht so recht, wie uns geschah.
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