Die Sehnsucht ist größer
unsinnig. Das Zeug würde gar nicht mehr trocken.
Von hier aus sind es noch 65 Kilometer bis nach Santiago. Irgendwie ist das eine dumme Entfernung. Es ist schon so nah, daß man sich wirklich ernsthaft überlegt, ob es sich lohnt, das schwarze Polo nochmal zu waschen - andererseits ist es noch so weit, daß man heute nicht mehr hinkommt. Ich erlebe es als ein »dazwischen« - irgendwie »nicht mehr«, aber auch »noch nicht«.
Und das erste, was ich mir dort kaufen werde, wird ein Sweat-Shirt sein, flauschig-warm und weiß - und sauber...
Ribadiso, 21.00 Uhr
Die Großetappe ist geschafft. Laut Führer waren es 27, laut Kilometersteine 25 Kilometer. Es reicht jedenfalls, um rechtschaffen müde zu sein. Ich habe mit den dauernden Auf- und Abstiegen heute wieder einmal das Knie bemerkt - es wird Zeit, daß wir nach Santiago kommen. Und es ist gut, daß jetzt nur noch zwei Zwanziger-Etappen vor uns liegen.
Das Refugio hier ist wunderschön, herrlich an einem kleinen Fluß gelegen, alte Gebäude, die neu hergerichtet worden sind, alles ist sehr großzügig angelegt. Endlich mal keine Enge in den Waschräumen, ausreichend Wäscheleine, viel Platz ums Haus. Dafür ist es abseits gelegen, das heißt, heute abend ist Selbstverpflegung angesagt, weil wir beide keine Lust haben, nochmal zwei Kilometer bis zum nächsten Gasthaus zu laufen und wieder zurück. Uns ist es recht so, wir wußten es und haben uns proviantmäßig drauf eingestellt - und so werden auch endlich die letzten beiden Dosen Thunfisch aufgemacht.
Wir picknicken gemütlich am kleinen Fluß. Wenn’s noch ein bißchen wärmer wäre, wäre es nur schön - aber es geht grad noch, wenn man im Pullover draußen sitzt. Immerhin - das Wetter hat heute weitestgehend gehalten, auch wenn es manchmal sehr nach Regen aussah. Aber die Sachen im Rucksack sind schon klamm nach den letzten Tagen.
Melide haben wir sehr schnell hinter uns gelassen. Dort war Markt - und es war laut und voll und unangenehm eng. Sogar in der Bar hat uns die Panik ergriffen, so daß wir kurzerhand flüchteten.
Heute vor fünf Wochen bin ich in St.-Jean los - morgen in einer Woche bin ich daheim. Und nochmal interessant wird die Frage: Was heißt für mich Santiago? Mir fällt das Bild vom himmlischen Jerusalem ein, das Lied »In deinen Toren werd ich stehen, du freie Stadt Jerusalem, in deinen Toren kann ich atmen, erwacht mein Lied!« - Santiago als Sinnbild, als Chiffre für meinen Lebensweg, für das Ziel, auf das hin ich ausgerichtet bin, als Bild für mein Leben. Wegstrecken mit viel Kraft, Etappen mit dem notwendigen langen Atem, Grenzen, die ich erreiche, Strecken, die ich alleine gehen muß und darf, Wegabschnitte voll Zärtlichkeit und Behutsamkeit, voll Nähe und Begegnung, Wege mit Vertrautheit und Ritualen. Da ist heute abend viel Sehnsucht nach Leben in mir - und diese Sehnsucht ist bereits schon wieder Lebendigkeit.
Noch einmal neu verstehe ich das Wort »lebenssatt« - nicht lebensmüde. Voll von Leben, voll von Eindrücken, von Erfahrungen - jetzt wird es Zeit, anzukommen.
Hinten im »Refugio-Schuppen« ist »high-life«. Ich habe den Eindruck, da löst sich grad viel an Spannung, die einen doch über lange Zeit begleitet hat. Der Kilometerstein »40« ist passiert, was soll da noch viel geschehen?
Schön - zu meiner Schlußzigarette ertönt grad das Lied »Guten Abend, gut Nacht« auf italienisch. Das hat mir zu meiner Stimmung grad noch gefehlt.
Montag, 30.6.
Rua, 20.00 Uhr
20 Kilometer vor Santiago - ein schönes und spannendes Gefühl! Heute abend ist viel Zufriedenheit in mir, ein bißchen Ausgelassenheit, aber auch ein Gefühl, das sehr in die Tiefe geht, ein Erfüllt-Sein...
Santiago - 5 1/2 Wochen zu Fuß unterwegs - seit Jahren geträumt - seit zwei Jahren organisiert - und morgen werde ich nun ankommen...
Meine Stimmung tendierte tagsüber von melancholisch bis gereizt. Traurig bin ich ein bißchen, weil Martin nicht wieder aufgetaucht ist. Ich wäre gerne nochmal einen Tag mit ihm gegangen. Ich bin zwar sicher, daß wir uns in Santiago sehen werden - aber dann wird es anders sein.
Das Knatschige hat Christiane ein bißchen mitbekommen, und ich bin froh, daß sie mir bestätigt, daß sie davon nichts abgekriegt hat. Das wäre mir nicht recht gewesen. Das Melancholische - damit war ich heute allein und bei mir - und das war wohl gut so. Auch in meiner Auseinandersetzung mit diesem Weg, mit mir, bin ich allein geblieben. Und das geht
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