Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Signatur des Mörders - Roman

Titel: Die Signatur des Mörders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
Vom Netzwerk:
bezahle.«
    Sie schüttelte den Kopf, doch plötzlich fiel ihr wieder der Fünfeuroschein ein. »Wie viel hast du?«
    Er hob die Hand.
    Fünfzig Euro? Warum nicht! Davon konnte sie zwei Wochen überleben.
     
    Helena hörte die schleichenden Schritte hinter sich, mit denen er ihr folgte. Das schleifende Geräusch auf dem Boden ließ einen kalten Schauer über ihren Rücken rieseln. Als krieche lediglich sein Schatten hinter ihr her, während er selbst überall in ihrer Wohnung zugleich war.
    Im Übungsraum angekommen, räusperte sie sich und deutete auf die Bank neben der Balkontür. »Setz dich. Ich muss mich erst umziehen, oder möchtest du, dass ich in Jeans tanze?«
    »Nein, das rote! Zieh das rote Kleid an! »
    Sie verließ schnell den Raum. Würde sie die Schuhe, in denen sie den ganzen Tag getanzt hatte, noch einmal über die geschwollenen Füße bringen? Während im Waschbecken der Fön das Leder der Schuhe aufwärmte und weich machte, verklebte sie die Füße mit Leukoplast. Anschließend stopfte sie frische Watte in die Spitzen.
    O verdammt, der erste Schritt schmerzte, als ob man ihr die Füße abschneiden würde. Sie biss die Zähne zusammen und zog das rote Kleid über, das sich so eng an ihren Körper schmiegte, dass ihr die Luft wegblieb. Dann kehrte sie in den Übungsraum zurück, wo er ruhig auf der Bank saß und ausgerechnet in dem Buch mit Kafkas Erzählungen las, als wolle er sich über sie lustig machen.
    »Also, was soll ich tanzen?«
    Er reichte ihr eine in Geschenkpapier verpackte CD.
    »Hier. Zum Geburtstag.«
    Etwas in ihr sträubte sich, das Päckchen entgegenzunehmen. Babičkas heisere Stimme: »Ein Geschenk am Vortag zu öffnen bringt Unglück.«
    Ungeduldig zerfetzte er das Papier und beugte sich hinab, um die CD einzulegen. »Los! Tanz endlich!«
    Zitternd stellte sie sich in Position. Ihr Körper war müde, erschöpft, ja geradezu ausgelaugt. Ihr schien, als könne sie ihn nur unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte bewegen.
    Die Musik ertönte laut.
    Eine Pirouette nach der anderen.
    Le Tour en l’air.
    Sissone ouvert.
    Sissone fermé.
    Dann wieder der tröstliche Gedanke an das Geld, das sie dringend benötigte.
    Egal, dass ihre Füße brannten, die Muskeln spannten sich unerträglich wie ein Band, das jeden Moment reißen konnte. Körperliche Schmerzen waren nur ein mechanischerWiderstand, den sie als Tänzerin überwinden musste. Hatte sie nicht all die Jahre gelernt, den Schmerz auszuschalten? Ihr Verstand war darin geübt, ihren Körper wie eine Maschine zu behandeln. Je brutaler sie ihn traktierte, desto weniger fühlte sie die Pein, die die Bewegungen hervorriefen.
    Empfand sie deshalb den ersten Schlag nicht? Weil sie körperliche Schmerzen kaum noch wahrnahm? Im Gegenteil Befriedigung empfand? Einen unerklärlichen Trost?
    Sie schwankte lediglich leicht, denn sie war trainiert, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.
    Der zweite Schlag traf sie in die Knie. Sie taumelte, wobei sie aus dem Rhythmus geworfen wurde. Sie verstand nicht wirklich, was geschah, hörte nur unaufhörlich den Befehl: »Tanz!«
    Dieses hohe Pfeifen. Das Knistern. Das Summen.
    Erst beim dritten Schlag jagte der Schmerz durch ihr Fleisch.
    Der vierte Schlag: Die Haut zerplatzte an den Waden, dann an den Oberschenkeln. Sie riss wie brüchiges Leder, wie altes Papier.
    Die Welt zum Schweben bringen. Schwerelos sein. Das Gefühl vermitteln, dass der Zuschauer glaubt, selbst zu tanzen. Dem Unwirklichen den Status von Realität und Sicherheit verleihen. Dem, wonach das Publikum sich sehnt, Leben einhauchen.
    Die Stimme ihrer Großmutter: »Stell dich nicht so an! Tanz! Der Schmerz existiert nur, wenn du stehen bleibst. Du musst lernen, das Leiden zu ertragen, deine Schwäche zu überwinden.Wie Jesus. Die Qual deines Körpers ist dein Kreuz! Erst wenn du sie überwindest, kannst du eine wirkliche Primaballerina genannt werden!«
    Und Helena Baarova tanzte weiter.
    Eine leere Straße. Bäume, die an einem vorbeiziehen. Der graue Asphalt, der zu einer einzigen Linie wird. Das Begreifen, was Ewigkeit heißt, nach der sich jeder Mensch sehnt, der niemals sterben möchte.
    Lange hatte Helena auf den Moment gewartet, in dem sie vergaß, dass sie tanzte, in dem sie die Pein, die ihren Körper quälte, endgültig abschüttelte wie eine lästige Hülle.
    Es ist dein Opfer für die Kunst, hörte sie ihre Großmutter heiser flüstern.
    Sie fühlte den Boden unter ihren Füßen nicht. Der Schmerz? Er besaß keine Macht

Weitere Kostenlose Bücher