Die Signatur des Mörders - Roman
1
I’m singing in the rain.
Sie tanzte drei Schritte nach vorne.
Helena nahm den hektischen Betrieb, der wie jeden Freitagabend auf der Kaiserstraße herrschte, kaum wahr. Stattdessen summte sie die Melodie aus dem Film mit Gene Kelly. Einfach glücklich, ohne dass sie den Mittelfinger über dem Zeigefinger kreuzte, ohne dass sie dreimal über die Schulter spuckte, ohne diesen Gedanken im Hinterkopf, dass stets ein Unglück auf das andere folgte.
Diese Unbeschwertheit war ungewohnt und machte sie für einen Moment misstrauisch, sie traute dem Glück nicht, aber war nicht mit Babička endgültig das Gerede über Strafe, Gottesurteile und Teufelswerk gestorben? O nein, Helena vermisste die warnenden Briefe ihrer Großmutter nicht.
Vor ihr ging stockend eine lebhaft diskutierende Gruppe Japaner, vermutlich Geschäftsleute, auf der Suche nach dem billigen Vergnügen. Helena erkannte es an dem Ausdruck von Gier in diesen nur scheinbar gleichgültigen Gesichtern. Das Gefühl, in einen Schwarm exotischer Fische geraten zu sein, machte sie unruhig, sodass sie sich beeilte, die Gruppe zu überholen.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite winkte ihr Jess zu, deren schwarze Lederstiefel vermutlich bis hoch an den Stringtanga reichten. Die Prostituierte hielt die schwarze Glitzertasche fest an sich gepresst, da sie in einer ständigen Angst vor einem Raubüberfall lebte.
»Doch«, hatte sie erst vor kurzem Helena erklärt, »andererseits sollte ich nichts mehr fürchten als mich selbst. Schau mich doch an! Bei Wind und Wetter renne ich die Straße auf und ab und denke, was bist du nur für eine abgefuckte Nutte. Und, sag selbst, bin ich das etwa nicht?«
Helena wollte widersprechen, doch Jess winkte ab: »Gibst du ein altes Auto dem Schrotthändler, kriegst du noch Geld. Aber wer nimmt mich? Ich bin nicht einmal mehr als Ersatzteillager zu gebrauchen.«
Jess hatte dazu gelacht. Nicht fröhlich, sondern resigniert, und ihre Tiefseestimme erinnerte Helena an Marlene Dietrich.Wie diese trug auch Jess die blondierten Haare hoch toupiert, sodass sie wie aufgeschäumtes gelbes Softeis aussahen. Aber Helena hatte sie gespürt, die Einsamkeit in diesem Lachen.
Für einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken hinüberzugehen, doch wurde ihr Plan durch eine heisere Stimme hinter ihrem Rücken zunichtegemacht.
»Helena.«
Sie drehte sich um.
Alex, der Tag für Tag vor ihrem Haus herumlungerte, als wolle er sie überwachen. Der nie auf ihr Gesicht sah, sondern immer auf ihre Brüste starrte. Der ihren Balkon hochkletterte, um im Dunkeln auf sie zu warten. Wie konnte er nur glauben, sie würde ihn nicht bemerken, wenn er sie im Schutz der Nacht beobachtete?
»Ich brauche Geld«, murmelte er schuldbewusst. Seine gesenkten Lider flatterten vor Nervosität. Er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen.
Als sie bemerkte, wie sich seine Rippen unter dem ehemals weißen Shirt abzeichneten, überwog das Mitgefühl, eine ihrer größten Schwächen. Nie konnte sie nein sagen, oder stopp oder halt!
Sie zog die Geldbörse aus der Handtasche und drückte ihm den letzten Fünfeuroschein in die Hand.
»Aber kauf dir diesmal etwas zu essen, Alex.« Sie sah ihn eindringlich an.
Sein Gesichtsausdruck war zerknirscht, dennoch griff er gierig nach dem Geld. Helena ekelte sich vor seinen gelben Fingern, auf denen das Nikotin wie auch der langjährige Konsum von Heroin sichtbare Spuren hinterlassen hatten. Dann wandte er sich um, wankte schlurfend Richtung Bahnhof.
»Deine Gutmütigkeit rast wieder direkt auf die Blödheit zu«, hörte sie nun Jess neben sich. Sie musterte Helena mit demselben besorgten Blick wie ihre Großmutter, und wie diese sah auch die Prostituierte überall das Unheil.
Jess ging einen Schritt zur Seite, wobei sie zu spät die Pfütze aus Erbrochenem bemerkte.
»Shit. Scheiße!«, fluchte sie.
Helena reichte ihr eine Packung Taschentücher. »Du glaubst doch nicht, dass ich fremde Kotze anfasse? Nicht um alles in der Welt! Nicht einmal mit Aidshandschuhen.« Dennoch nahm Jess die Taschentücher, steckte sie in die Handtasche, um anschließend neugierig zu fragen: »Wie war’s?«
»Ich habe ein gutes Gefühl.«
»Ein gutes Gefühl? Das reicht nicht. Das hatte ich schon hundert Mal. Aber immer lag ich falsch. Kriegst du den Job oder nicht?«
»Ich glaube schon, nein, ich bin mir sicher. Sie schicken den Vertrag zu, andererseits: Solange nichts unterschrieben ist … Sich zu früh freuen bringt Unglück.«
Jess
Weitere Kostenlose Bücher