Die Sonate des Einhorns
»Querida, Liebling, ich schaffe es, daß die Nachtschwestern in Silver Pines mich verstehen. Ich kann sogar mit deinem Vater und deiner Mutter reden, meistens jedenfalls. Was ist dagegen schon ein Haufen kleiner Drachen?«
Ko hatte sich ins hoch gelegene Wüstenland aufgemacht und war mit einem tiefroten Flaschenkürbis wiedergekommen, der fast so groß war wie er selbst. Joey hatte ein solches Ding in dieser Gegend noch nie gesehen, doch Ko sagte, sie wüchsen dort reichlich, wenn man wußte, wo man suchen mußte. Sie brauchten einen ganzen Tag, um die knorpelige Schale zu durchbohren und das Ding auszuhöhlen, doch als sie es geschafft hatten, besaß Abuelita einen perfekten Kessel, in dem sie Gold, Talg, zerkrümelte Blätter, Gras und verschiedene Extrakte aus Mark und Baumrinden nach Herzenslust verrühren konnte. Sie tat es in vollkommener Abgeschiedenheit – nicht einmal Joey durfte in ihre Nähe kommen –, pfiff ein altes Maultiertreiberlied durch die Zähne. Dann spuckte sie zweimal in den Kürbis hinein, sagte zwei oder drei Worte, die beileibe kein Spanisch waren, und rief Joey zu sich. »So«, sagte sie. »Jetzt finden wir heraus, ob wir in Las Perlas eine Ahnung hatten oder nicht. Vielleicht ja, vielleicht nein.«
Joey sah sie plötzlich besorgt an. »Vielleicht nein? Du hast doch gesagt, das Zeug hätte immer gewirkt.«
»Habe ich das gesagt?« Abuelita zupfte an ihrer Unterlippe und zuckte leicht mit den Schultern. »Na ja, ich bin eine alte Frau, die manchmal was vergißt. Ein kleines, unbedeutendes Dorf voll armer Bauern … wir haben alle möglichen verrückten Medikamente ausprobiert. Außerdem war das in Las Perlas. Wir sind hier nicht in Las Perlas.«
»Indigo hat mir gesagt, daß es nicht gehen wird«, sagte Joey mit erstickter Stimme. »Aber er hat sein Horn trotzdem verkauft.«
Abuelita fuhr herum, umarmte und schüttelte und tadelte sie im selben Augenblick. »Fina, hör auf, dir dauernd um alles Sorgen zu machen! Wir tun unser Bestes, mehr wird von uns nicht verlangt. Ob es wirkt, ob es nicht wirkt, Indigo weiß, daß wir unser Bestes gegeben haben. Auch Gott weiß es. Komm schon, geh und hol alle her, es wird Zeit.«
Trotz Joeys ständiger Angst, daß sich die Grenze verschieben könnte und Abuelita und sie Tausende von Meilen fern der Heimat stranden würden, erloschen all ihre Gedanken, als sie der Ältesten Shei’rahs ansichtig wurde, die kamen, um geheilt zu werden. Abuelita hatte ihren Kürbiskessel über einem kleinen Feuer am Rande der prärieähnlichen Steppe aufgestellt, die auf zwei Seiten von fernen Wüstenbergen begrenzt wurde und auf der dritten von etwas, was die Satyrn als Sommersümpfe bezeichneten und wo sich viele von ihnen während der wärmsten Tage versammelten. Joey sah drei lange Reihen mit Einhörnern, die sich erstreckten, so weit ihr Auge reichte, bis ihre Umrisse im Dunst oder im Sonnenlicht verschwanden. Nicht einmal in der Ebene hatte sie jemals so viele Älteste auf einmal gesehen: Sie versuchte, sie zu zählen, verlor jedoch schon bald den Überblick. Sämtliche Farbtöne waren vertreten, vom Rot der Karkadanns bis hin zu einem Gold, das heller als Indigos Münzen war, oder dem schieren Mitternachtsblau einiger der Ki-Lins; und die würdevollen Ältesten verharrten ruhig, während Fohlen, die jünger als Touriq waren, um sie herum lärmten und tollten. Und die Musik Shei’rahs, klarer als Joey sie je gehört hatte, spiegelte und feierte ihre Vielfalt, schwoll von allen Seiten her an, als könnten weder Luft noch Erde sie länger bei sich behalten. Wie Menschen, die für eine Grippeimpfung anstehen, dachte sie und kicherte albern, und dann wandte sie sich ab und weinte.
Abuelita saß im Schneidersitz hinter ihrem Kessel, behandelte nach und nach die verkrusteten, geschwollenen Augen eines jeden Ältesten – jene wie Touriq, die noch sehen konnten, ebenso wie die seit langem schon Erblindeten –, grüßte alle, die sie mit Namen kannte (und Joey staunte, wie viele es waren, in welch kurzer Zeit), und wiederholte immer und immer wieder: »Warte ein paar Tage… drei, vier ungefähr. Wenn sich nichts ändert, komm wieder, und wir versuchen es noch mal.« So saß sie den ganzen Tag, döste ein paar Stunden, in denen die Ältesten schweigend warteten, und war wieder bei der Sache, bevor der Mond untergegangen war. Als Joey zum zwanzigsten oder dreißigsten Mal anbot, sie abzulösen, erwiderte Abuelita wie stets: »Nein,gracias, danke, Fina. Besser,
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