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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Er kam in menschlicher Gestalt, zu ihrer großen Überraschung, und sie stand auf und ging der schmalen Gestalt entgegen, die ihr über die Ebene entgegentrottete.
    Nur wenige der Ältesten spielten zwischen ihnen, und diese schenkten ihnen keinerlei Beachtung, als Joey und Indigo einander in die Augen sahen. Sie fand, daß er müde aussah und kaum noch schön.
    »Danke, daß du gekommen bist«, sagte sie. Indigo gewährte ihr einen langen, kühlen Blick, und zum ersten Mal sah Joey die blaugrünen Flecken in seinen Augenwinkeln.
    »Ja«, sagte er als Antwort auf ihren Blick. »Ja, und was ist damit? Was hast du mir zu sagen?«
    Joey sprach sehr schnell, um sich selbst am Denken zu hindern. »Wir brauchen Gold. Abuelita und ich.« Indigos Miene änderte sich nicht im geringsten, doch er blinzelte, was Joey als persönlichen Triumph wertete. »Um eure Augen zu heilen, die Augen von euch allen, schmelzen wir das Gold ein und rühren damit eine Art Salbe. Abuelita weiß, wie man es macht. Nur müssen wir uns beeilen, weil sich die Grenze jeden Augenblick verschieben kann.«
    Den ganzen Morgen über hatte sie sich für sein höhnisches Gelächter präpariert, da sie wußte, daß erst das, was danach kam, wichtig war. Doch wieder überraschte er sie, indem er nach kurzem Schweigen sagte: »Ich habe kein Gold. Frag deinen Papas, wenn du Gold willst.«
    »Er würde es mir nicht geben«, sagte Joey. »Aber dir würde er noch den letzten Krümel Gold überlassen. Und er hat seit deinem ersten Besuch noch viel mehr angehäuft. Ich glaube, er hat alle seine Freunde und Bekannten angerufen.«
    »Ich verstehe. Jetzt soll ich ihm also mein Horn verkaufen und dir das Gold geben.« Indigos neugierige Friedfertigkeit war für Joey beunruhigender, als sein Spott es hätte sein können. Zwei sehr junge Einhörner tanzten auf den Hinterbeinen vorüber, fochten wild mit ihren stummeligen Hörnern und schnaubten wie Dampfmaschinen. Plötzlich drehte der leise Wind und atmete den Duft von parfümierter Asche, den die gelben Shaya-Blumen im tiefsten Abendrotwald verströmten. Joey sagte: »Ja. Ja, das ist es. Darum bitte ich dich.«
    Indigo schüttelte den Kopf, höhnisch oder verwundert oder beides. »Laß mich ganz sichergehen, worum du mich hier bittest. Du willst mich nackt, ohne Horn und ohne Gold in deine Welt gehen lassen, in der Gold alles ist, in der ich ohne Geld nichts bin, nichts, und es keinen interessiert, ob ich ein Ältester aus Shei’rah bin. Und wenn ich das mache, wird deine Großmutter ein Zaubermittel brauen, das den Meinen wieder zum Augenlicht verhilft. Habe ich dich richtig verstanden?« Da merkte Joey, daß er wirklich zitterte. Seine Stimme zersprang und überschlug sich bei den letzten Worten.
    »Das habe ich doch schon gesagt«, wiederholte sie trotzig. »Und wenn du auf der anderen Seite der Grenze bist, in meiner Welt, verspreche ich, daß ich alles tun werde, um dir zu helfen. Mr. Papas auch. Du hättest Freunde, du wärst nicht wie die anderen, auf der Straße und alles. Das verspreche ich dir hoch und heilig.« Einen Augenblick später fügte sie hinzu: »Wahrscheinlich würde sowieso Gold übrigbleiben. Abuelita sagt, man braucht gar nicht soviel.«
    Indigo lächelte sie an: nicht das schiefe, zynische Grinsen, das er so gut beherrschte, sondern ein Lächeln, das langsam aus weiter Ferne zu kommen schien und eigentlich nicht ihr galt. »Nein«, sagte er. »Ich werde nicht wie die anderen sein, die Shei’rah verlassen haben, denn ich werde nicht mal ein Horn haben, auf dem ich an Straßenecken spielen könnte. Ich müßte mich auf mein Köpfchen und meine Freunde verlassen, wie du sagst, und vielleicht genügt das, um sich über Wasser zu halten, vielleicht auch nicht. Und ich könnte nie mehr zurück.«
    Joey versuchte zu sprechen, doch ihr Mund war zu trocken. Ganz leise fragte Indigo: »Warum sollte ich das tun?«
    Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie eigentlich seinen Blick erwiderte, ihr Kopf war vollkommen gedankenleer. Es schien eine große, hallende Weile lang zu dauern, bis sie auch nur Worte fand, die sie denken konnte. Abuelita, das war’s. Ich muß jetzt etwas wirklich Schlaues und Bedeutsames sagen, und du weißt, daß ich nur deine verschrobene Enkelin bin. Wenn ich den Ältesten helfen soll, solltest du jetzt lieber mir helfen, sonst können wir aufgeben und uns ein Zimmer in Silver Pines teilen. Sie räusperte sich, unterdrückte das Bedürfnis zu gähnen, das sie stets überkam, wenn sie

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