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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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mehlig, wie vorverdaut. Mal trieben Spelzen in ihr, mal schwarzes Geäst aus dem Park, meist aber, wie ein blendendes Spiegelei, das Zentralgestirn.
    Sidonia war in der Lagerküche beschäftigt, sie half beim Kartoffelschälen. Hier und da gelang es ihr, heimlich ein paar Kartoffeln, ein zusätzliches Stück Brot für ihren Bruder abzuzweigen. Aber dem Bruder ging es nicht gut, er aß nichts mehr.
    Johannes erkrankte schwer. Er hatte sich eine Lungenentzündung zugezogen und kam ins Lazarett. Er wurde isoliert; seine Schwester durfte nicht mehr zu ihm. Sein Zustand verschlechterte sich. Er delirierte.
    Sein wiederkehrender Alptraum, in welchem er auf Strümpfen einen düsteren Keller durchquert: Der Boden ist naß, voller Schmutz und Pfützen, und seine Strümpfe saugen das Wasser auf und werden dunkler, in den Füßen zieht die Kälte hoch, die aus den zerbrochenen Fliesen steigt, und ihm kommt es vor, als vermische sich sein Körper auf diese Weise mit der heruntergekommenen Materie, er wird Wasser, er wird Fliese, er wird Schutt.
    Einflüsse des Schlosses: Im Wachzustand war die Ausstrahlung dieses Ortes noch stärker zu spüren. Die Etappen der Geschichte stiegen aus dem Gemäuer, drangen in ihn ein. Er warempfindlich geworden. Strahlen tasteten ihn ab, griffen ihn an, ihre Berührung schmerzte.
    Man hatte ihn von seinem Strohsack im Gemeinschaftsschlafsaal geholt und in ein Gitterbett gelegt. Wenn er wach war, fuhren seine Hände unruhig herum, pflückte er Flusen von seiner Wolldecke ab. Am späten Vormittag erreichte die Sonne sein Bett und zerschnitt die Wolldecke in einen hellen und einen dunkleren Teil. Er fürchtete, daß auch er durchgeschnitten würde, daß er sich wie ein Regenwurm verdoppeln müßte.
    Mittags sah er zwei Sonnen auf einmal am Himmel stehen und wußte nicht, welche die echte war. Abends verschwanden die Sonnen eine nach der andern im Schacht. Johannes schlief inmitten von Zeitstrahlen, schlief wie Schreber den Strahlenschlaf, die Sonne des Sonnensteins kam von allen Seiten. Tagsüber sah er die Menschen, die ihn versorgten, von einer Strahlenkrone umspielt.
    Ein endloser, ein auf einen Punkt zusammengeschnurrter Sommer, der für Johannes darin bestand, durch sein Fenster hinaus auf die Sonne zu starren, die Sonne: ein haariges Spinnentier, das über den Himmel kroch.
    Ein heimatloser, ein unheimlicher Sommer, der für Sidonia darin bestand, Kartoffeln zu schälen und aus den Fenstern der Schloßküche hinab auf den Fluß zu blicken, auf die Elbe kurz vor Dresden, die Elbe ein Stück hinter Böhmen, auf den Fluß zu blicken, zuzusehen, wie die Zeit verstrich.
    Als die Kinder verlegt wurden, frei von ansteckenden Krankheiten, verpflegt bis einschließlich, dreimal entlaust , war Johannes Janich nicht marschfähig. Sidonia befand sich bereits am Sammelpunkt, die Essenskarten waren durchgehend abgestempelt,die Quarantänebescheinigungen vollständig ausgefüllt. Die andern drängelten, kramten in ihrem dürftigen Gepäck, nur ihr Bruder Johannes fehlte. Ihr wurde klar, daß er verlorengehen würde, wenn sie ihn allein ließ. Sie löste sich aus der Formation, rannte zurück.
    Wir wissen, daß Johannes Janich nach einem kurzen Sommer weitertransportiert wurde, noch immer fiebernd, auf einem offenen Lastwagen liegend, wissen, daß Sidonia ihn in letzter Minute von der Krankenstation holte, ihn anzog und mitnahm in die Baracken des nächsten Lagers, wo der restliche Sommer verrann und der Herbst zerrieselte, Name, geboren, bisheriger Wohnort , wo der Herbst zerfiel in Ausweise und Kleiderlisten, 1 Paar Schuhe, 1 Anzug, 1 Paar Handschuhe, 1 Hemd , wo der Herbst verging, bis sie kurz vor Weihnachten das Rheinland erreichten.
    Johannes Janich wuchs bei entfernten Verwandten auf, er wurde Berufsschullehrer mit den Fächern Technik und Mathematik, er heiratete Hiltrud Wagner, eine rheinische Frohnatur von praktischer, zupackender Frömmigkeit, die er Trudchen nannte, er baute sich ein Haus im Vorgebirge, legte einen Garten mit Obstbäumen und Gemüsebeeten an, er besuchte jedes Wochenende seine Schwester, die als Haushälterin eines geistlichen Herrn in Köln lebte, er zeugte zwei Kinder, Mila und mich.
    Auch der Name meiner Schwester hängt mit dem Sonnenstein zusammen. Schwester Mila, so hieß die Krankenschwester, der unser Vater seine Genesung, also sein Leben verdankt. Sie nahm ihn auf dem Höhepunkt seiner Krankheit in ihre Privatwohnung auf. Zog die Vorhänge zu. Wachte über ihn in den

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