Die Sonnenposition (German Edition)
Nächten, in denen er fieberte, wischte ihm den Schweiß ab, flößte ihm Tee ein, machte ihm Wadenwickel. Blieb bei ihm inder entscheidenden Nacht, die er überstehen mußte. Blieb bei ihm, als er mit dem Tod rang, den er in dieser, der schlimmsten Nacht, dank ihrer Hilfe, Pflege und Fürsorge schließlich besiegte. Sie kam aus dem Sudetenland: Mila, die Liebe. Mit dieser Namensgebung setzte sich unser Vater über den katholischen Heiligenkalender hinweg. Sonst hätte meine Schwester, wie ich, einen altmodischeren Namen tragen müssen, Elisabeth, oder Barbara, oder, passend zu Altfried, vielleicht Friederike.
Meiner Schwester ist mit diesem Namen eine geheime Sehnsucht nach Osteuropa in die Wiege gelegt worden, eine Neigung, die ich nicht teile.
Ich kann dem Osten Europas nichts abgewinnen. Aber ich konkurriere mit Mila um den Sonnenstein. Durch ihre Namensbindung ist sie natürlich im Vorteil. Jedoch legt meine gegenwärtige Position als Arzt einer Heilanstalt, und diese ausgerechnet in einem Schloß im Osten, die Vermutung nahe, daß auch ich an Schloß Sonnenstein anknüpfen möchte. Ich schließe daran an, nahtlos an diese Jahre an im Guten wie im Bösen, ich bemühe mich um Heilung, selbstverständlich kommt sie zu spät, Heilung im nachhinein, besser als nichts, aber das Geschehene ist nicht ungeschehen zu machen, ich schließe an Schloß Sonnenstein an und versage, ich kann nichts mehr tun. Ich sitze im Schloß, lade mir Tag um Tag Tatenlosigkeit auf, sitze untätig herum, ich bilde mir ein, ich nehme Schuld auf mich.
21 Weiße Maulbeeren
Es waren lose hingeworfene Wiesen, an denen sich keine Erinnerung festmachen ließ. Es war ein leerer Marktplatz, kaum Menschen, kaum Fahrzeuge, es war die Maßlosigkeit eines verwachsenen Grundstücks, das überall hätte sein können und unser Gefühl von Heimatlosigkeit verstärkte. Es war ein Sehnsuchtsort, ein Ort, der von vornherein unerreichbar blieb.
Die Peinlichkeiten der Reise nach Polen begannen bereits vor der Abfahrt. Wir saßen schon im Bus, Mila am Fenster, neben ihr Tante Sidonia, ich auf dem Platz auf der anderen Seite des Gangs. Unser sperriges Bündel ragte über mir aus dem Gepäcknetz. In diesem Bündel aus einem alten geblümten Vorhang hatte Tante Sidonia notdürftig das Kreuz verstaut, das sie am Ziel unserer Reise im Garten fremder Leute aufzustellen gedachte. Ich zog die Arme an mich und drückte die Knie zusammen, um meinen Sitznachbarn, einen zarten älteren Herrn mit wuchtigem Schnurrbart, nicht einzuengen.
Der Reiseleiter trat ans Mikrofon, durch den Bus schepperten Begrüßungsworte, dann forderte er uns auf, unsere Pässe hervorzuholen, die er einsammeln und an der Grenze gebündelt vorlegen wollte. Tante Sidonia kramte stumm in ihrer Tasche. Mila schlug vor, Sidonias Koffer zu öffnen, der sich zuunterst im Gepäckraum befand, weil wir, beflissen, überpünktlich, bei den ersten gewesen waren, die sich eingefunden hatten. Tante Sidonia schüttelte den Kopf und suchte sinnlos weiter. Sie zog den abgegriffenen Brustbeutel unter ihrer Bluse hervor, den niemand hätte zu Gesicht bekommen dürfen, siebetastete verstohlen ihren Bauch unterhalb des Rockbundes, wo sie sich als eiserne Reserve einige Geldscheine in die Wäsche eingenäht hatte, der Paß war nicht da.
Die Reise nach Polen begann damit, daß ich durch das morgendlich gestaute Köln raste. Ich joggte zur Straßenbahn, fuhr drei Stationen zu Tante Sidonias Wohnung, hetzte die Treppen hoch, zog alle Schubladen auf, fand den Paß schließlich auf dem Wohnzimmertisch neben einem Brotkanten, den Tante Sidonia über Nacht mit einem Küchentuch bedeckt hatte. Ich griff den Paß und auch das Brot, zwang mich, wieder sorgfältig abzuschließen, erreichte schweißgebadet den Bus. Die Reisegruppe gab offenbar schon seit geraumer Zeit ihrem Unmut Ausdruck, worauf warten wir eigentlich, da kommt er ja endlich, der Fette ist zu spät, viel zu spät, rücksichtslos, wir sind auch alle früh aufgestanden, aber er sieht ja schon aus wie eine Extrawurst. Tante Sidonia saß mit versteinerter Miene am Fenster, ihr Kinn zitterte, meine Schwester hielt ihre Hand.
Unser Vater hatte sich geweigert, an dieser Reise teilzunehmen. Es hat uns ein für allemal gereicht, sagte er kategorisch, niemals wieder wollen wir dorthin, und mit diesem Wir verwirrte er uns, denn wie selbstverständlich bezog er Tante Sidonia in seine Aussagen mit ein, obgleich es diese gewesen war, die den Wunsch zu der Reise geäußert
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