Die Sonnenposition (German Edition)
zur Seite, die auf den warmen Steinen des Gartenwegs spielten. Justyna machte sich, kaum daß wir drinnen Platz genommen hatten, in der Küche zu schaffen, trug Gebäckteller herein, rückte eine Warmhaltekanne zurecht. Tante Sidonia hatte sich nur pro forma hingesetzt, sprang sofort wieder auf und schnüffelte durch das Zimmer. Unser Kachelofen, rief sie enthusiastisch. Unsere Tapete! Nichts hat sich verändert!
Meine Schwester nippte am Kaffee, wand sich, als ich begann, die Schokoladentafeln an die Kinder zu verteilen, und flüchtete in den Garten. Ich überreichte das Waffeleisen, ich sprach dem Schmalzgebäck zu.
Justyna führte unsere Tante durch das Haus. Sie erörterte, wie ihre Eltern nach dem Krieg aus Ostpolen, das an Rußland gefallen war, vertrieben und hierhin umgesiedelt worden waren, sich in diesem Haus aber nie heimisch gefühlt, nie etwas erneuert, im Grunde nichts angerührt hatten, weil sie immer in der Erwartung gelebt hätten, eines Tages wieder wegzumüssen. Ihr selbst fehlten, sagte sie, die Mittel, substantiell etwas am Haus zu tun.
Sidonia nickte verständnisvoll, und ich fragte mich, ob sie so weit gehen würde, Justyna Wandfarbe zu schicken, ob sie es verantworten wollte, daß Justyna die Tapete, die ihr eigener,Sidonias Vater aufgeklebt hatte, schließlich abriß oder überstrich.
Ich mußte das Plumpsklo im Anbau aufsuchen und war überrascht, daß es dort ausschließlich nach warmem Fichtenholz roch. Neben ein Bündel aus zurechtgeschnittenen Zeitungsblättern hatte Justyna eine neue graue steifpapierene Klopapierrolle gestellt, die ich nicht anzubrechen wagte. Ich streute eine Schaufel Sägemehl in die Öffnung, zufrieden, daß ich den Vorgang bewältigte, aber ohne daß er etwas in mir auslöste, was Wehmut hätte sein können, ohne daß er mir auch nur im geringsten bekannt vorkam. Kein früheres Leben, keine subkutane Weitergabe von elterlichen Erinnerungen, nicht einmal ein Wiedererkennen aus Fernsehen und Film.
Meine Erinnerungen an diese Reise sind zu großen Teilen dürftig. In der Therapie unterscheiden wir zwischen dürftigen und üppigen Erinnerungen. Den üppigen wird der Vorzug gegeben. Der Patient ist angehalten, eine Erinnerung möglichst detailfreudig auszustaffieren, sie sich sinnlich zu vergegenwärtigen, um sich diesen verlorenen Teil seines Lebens mit der ganzen gesammelten Großartigkeit seiner Einbildungskraft wieder anzueignen. Eine dürftige Erinnerung kaschiert Verdrängtes. Niemals, so die Theorie, ist das Leben so dürftig wie im nachhinein oft dargestellt. Und eine üppige Erinnerung ist dazu dienlich, aus einem als dürftig empfundenen Leben im nachhinein einen Erfolg zu machen.
Ich für meinen Teil habe hingegen die dürftige Erinnerung schätzen gelernt. Mag ihr therapeutischer Effekt gering sein, sie beläßt das Vergangene im Bereich der Möglichkeiten, legt sich nicht fest.
Ich hatte mir vorgestellt, es gäbe im Garten eine umzäunte Stelle. Ein Rechteck, etwa von der Größe zweier Personen, die nebeneinander liegen, von einem verschnörkelten Gitter eingefaßt, mit Tigerlilien oder Hortensien bepflanzt. Diese Umzäunung war nicht vorhanden, dennoch erinnere ich mich im nachhinein mit Vorliebe an sie, auch an die Tigerlilien, die es nicht gab.
Hinter dem Schuppen, hatte unser Vater gesagt, um den Schuppen herum, und dann seht ihr schon die Stelle.
Neben dem Schuppen, hatte unsere Tante behauptet, einfach dicht am Schuppen, man kann es gar nicht verfehlen, allerdings ist nichts Besonderes zu sehen.
Zunächst waren uns die widersprüchlichen Angaben keineswegs fragwürdig vorgekommen. Ich trug in der Brusttasche den Lageplan, den Tante Sidonia zur Vorbereitung mit violettem Filzstift aufgezeichnet und in Kopie an Justyna geschickt hatte, außerdem das einzige Foto des Anwesens, das sie aus den Kriegswirren gerettet hatte und an dem bisher weniger der Schuppen von Interesse gewesen war als vielmehr die Familie, die vor dem Haus für das Foto posiert. In der Mitte die Großeltern in Korbsesseln, dahinter die Eltern, links das Kindermädchen, rechts der Hund Balthasar, vorne die beiden Kinder in hellen Kittelkleidern. Als älteste Tochter eines Lehrers blickt Tante Sidonia streng, altklug und etwas mürrisch, sie hat diesen Gesichtsausdruck bis heute beibehalten und ihre gouvernantenhafte Art nie abgelegt, hält auf dem Foto aber beschützend die Hand über das Kleinkind mit dem Spitzenkragen, das gerade erst stehen kann und mit unserem Vater
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