Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
direkten Angriff nicht erobern lässt.
Das Nachdenken über das Denken ist der zentrale Prozess der Kunst, aber es sagt uns sehr wenig darüber, wie wir denken in der Weise, wie wir es tun, und gar nichts darüber, warum sich künstlerisches Schaffen überhaupt herausbildete. Das Bewusstsein entstand in einem Evolutionsprozess über Millionen von Jahren des Kampfes um Leben und Tod und gerade auch dank dieses Kampfes; für die Selbsterforschung ist es nicht geeignet. Geeignet ist es für Überleben und Fortpflanzung. Bewusstes Denken wird von der Emotion gesteuert; dem Ziel Überleben und Fortpflanzung ist es voll und ganz ergeben. Die komplexen Verschlingungen des Geistes lassen sich vielleicht von der Kunst bis ins Detail darstellen, aber sie sind dort so konstruiert, als hätte die Natur des Menschen niemals eine Evolutionsgeschichte durchgemacht. Ihre mächtigen Metaphern haben uns der Lösung des Rätsels kein Stück näher gebracht als die Tragödien und anderen Schriften des antiken Griechenlands.
Naturwissenschaftler durchforsten nun das Umfeld der Festung und suchen nach möglichen Breschen in ihren Mauern. Irgendwann hatten sie die richtigen Technologien entworfen und konnten eindringen, und jetzt lesen sie die Codes und verfolgen die Bahnen von Milliarden von Nervenzellen. Innerhalb einer Generation werden wir wohl so weit vorangekommen sein, dass wir die stofflichen Grundlagen des Bewusstseins erklären können.
Aber – wenn die Natur des Bewusstseins geklärt ist, wissen wir dann, was wir sind und woher wir kommen? Nein. Das erschöpfende Verständnis der stofflichen Vorgänge im Gehirn bringt uns der Klärung des Mysteriums sehr nahe. Doch um es wirklich zu durchschauen, brauchen wir weit mehr Wissen sowohl aus den Natur- als auch aus den Geisteswissenschaften. Wir müssen verstehen, wie das Gehirn sich in der Evolution zu dem entwickelt hat, was es ist, und warum.
Auch in der Philosophie suchen wir vergeblich nach einer Antwort auf das große Rätsel. Bei aller hehren Zielsetzung in ihrer langen Geschichte hat die reine Philosophie die Grundfragen nach der menschlichen Existenz längst aufgegeben. Schon die Suche selbst ist Gift für den guten Ruf. Für Philosophen ist sie heute ein Gorgonenhaupt, dem selbst die besten Denker nicht ins Gesicht zu blicken wagen. Und für diese Abneigung haben sie gute Gründe. Ein Großteil der Philosophiegeschichte besteht aus gescheiterten Erkenntnismodellen. Das Diskursfeld ist übersät mit dem Strandgut von Bewusstseinstheorien. Nach dem Niedergang des logischen Positivismus Mitte des 20. Jahrhunderts und seines Versuchs, Naturwissenschaft und Logik in einem geschlossenen System zu vereinen, zerstreute sich die Profession der Philosophen in einer intellektuellen Diaspora. Man wich auf geschmeidigere Disziplinen aus, die noch nicht von der Naturwissenschaft besetzt waren – Wissenschaftsgeschichte, Semantik, Logik, Grundlagenmathematik, Ethik, Theologie sowie den lukrativsten Bereich, nämlich Fragestellungen der persönlichen Lebensführung.
In diesen verschiedenen Unterfangen blühen die Philosophen geradezu auf, doch an der Lösung des Rätsels arbeitet nach diesem Eliminierungsprozess zumindest momentan nur noch die Naturwissenschaft. Was die Naturwissenschaft verspricht und zum Teil bereits geleistet hat, ist Folgendes. Es gibt eine echte Schöpfungsgeschichte der Menschheit, und zwar eine einzige, und diese ist kein Mythos. Sie wird allmählich herausgearbeitet und verifiziert, wird bereichert und gestärkt, und zwar Schritt für Schritt.
Ich werde darlegen, dass die Wissenschaft besonders in den letzten zwei Jahrzehnten so weit fortgeschritten ist, dass wir die Fragen, woher wir kommen und was wir sind, jetzt kohärent angehen können. Dafür brauchen wir allerdings Antworten auf zwei noch grundlegendere Fragen, die die Suche aufgeworfen hat. Erstens die Frage, warum höher entwickeltes soziales Leben überhaupt existiert und in der Geschichte des Lebens so selten ist. Und zweitens die Frage nach den Antriebskräften, die es haben aufkommen lassen.
Diese Fragestellungen lassen sich lösen, indem wir Informationen aus den verschiedensten Disziplinen zusammenbringen – von der Molekulargenetik, den Neurowissenschaften und der Evolutionsbiologie bis hin zur Archäologie, Ökologie, Sozialpsychologie und Geschichte.
Um die Theorie eines derart komplexen Prozesses zu überprüfen, ist es hilfreich, sich die anderen sozialen Eroberer der Erde anzusehen,
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