Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
schillernden Zeitgenossen. Er war aus eigener Anstrengung nicht reich und berühmt geworden, obwohl er, wie er später erklärte, sehr wohl wusste, dass er ein großer Künstler war. Er sehnte sich nach einem schlichteren, einfacheren Leben, um seiner Bestimmung nachzukommen. Paris, so schrieb er 1886, sei für Mittellose geradezu eine Wüste, «und so gehe ich nach Panama, um dort wie ein Eingeborener zu leben. (…) Ich nehme meine Farben und meine Pinsel mit, und fern von allen Menschen werde ich mich dort erholen.»[ 3 ]
Es war nicht die Armut allein, die Gauguin von der Zivilisation entfremdete. Er war eine zutiefst rastlose Seele, ein Abenteurer, immer getrieben von der Suche nach dem, was hinter dem Hier und Jetzt lag. Künstlerisch arbeitete er dementsprechend experimentell. Auf seinen Wanderungen fühlte er sich zum Exotismus nichtwestlicher Kulturen hingezogen und wollte selbst darin eintauchen, weil er neue Möglichkeiten visuellen Ausdrucks suchte. Er lebte in Panama, dann auf Martinique. Wieder zu Hause, bewarb er sich auf eine Stelle in der unter französischer Herrschaft stehenden Provinz Tonkin (heute Nordvietnam). Als er abgelehnt wurde, kehrte er schließlich nach Französisch-Polynesien zurück, in das letzte Paradies.
Am 9. Juni 1891 erreichte Gauguin Papeete und tauchte in die dortige Kultur ein. Mehr und mehr machte er sich für die Rechte der Einheimischen stark und wurde damit in den Augen der Kolonialmacht zum Störenfried. Zugleich (und ungleich wichtiger) machte er sich zum Pionier des neuen Stils namens Primitivismus: flächig, bukolisch, häufig grell farbig, einfach und direkt und authentisch.
Dennoch müssen wir zu dem Schluss kommen, dass Gauguin nach mehr suchte als nur nach diesem neuen Stil. Er interessierte sich auch zutiefst für die Natur des Menschen – worin besteht sie wirklich, und wie lässt sie sich darstellen? Die Öffentlichkeit im französischen Mutterland, insbesondere in Paris, war das Terrain von tausend Stimmen, die sich im Kampf um Aufmerksamkeit heiser schrien, und das intellektuelle und künstlerische Leben stand unter der Kuratel anerkannter Autoritäten, die jeweils in ihrem eigenen kleinen Stückchen Expertentum Wurzeln geschlagen hatten. Keiner, so spürte er, konnte aus dieser Kakophonie heraus eine neue Einheit schaffen.
Vielleicht aber war das in der sehr viel einfacheren und doch voll funktionstüchtigen Welt von Tahiti möglich. Dort konnte man womöglich bis ans Urgestein der menschlichen Natur vordringen. In dieser Hinsicht war sich Gauguin mit Henry David Thoreau einig, der sich einige Jahrzehnte zuvor in seine winzige Hütte am Walden-See zurückgezogen hatte, «weil ich den Wunsch hatte, (…) dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte. (…) Ich wollte einen breiten Schwaden dicht am Boden mähen, das Leben in die Enge treiben und auf seine einfachste Formel reduzieren.»[ 4 ]
Diese Auffassung bringt Gauguin am besten auf seinem 3,75 Meter breiten Meisterwerk zum Ausdruck. Betrachten wir es einmal im Detail. Es zeigt eine Anordnung von Gestalten vor einer erfundenen Kulisse von Landschaften Tahitis aus Bergen und Meer. Die meisten Figuren sind weiblich (das ist der tahitische Gauguin). Abwechselnd realistisch und surreal, stehen sie für den menschlichen Lebenskreis. Die Blickrichtung geht von rechts nach links. Ein Säugling ganz rechts stellt die Geburt dar. Die Gestalt in der Mitte ist erwachsen, ihr Geschlecht nicht eindeutig; die erhobenen Arme sind ein Symbol der individuellen Selbsterkenntnis. Links davon pflückt und isst ein junges Paar Äpfel: der Archetypus Adam und Eva in ihrem Streben nach Erkenntnis. Ganz links hockt als Darstellung des Todes eine alte Frau in Qual und Verzweiflung am Boden (womöglich inspiriert von Albrecht Dürers Stich Melancholie von 1514).
Ein bläulich getöntes Idol starrt uns aus dem linken Hintergrund entgegen, die Arme sind rituell erhoben, vielleicht ist es wohlmeinend, vielleicht feindselig. Gauguin selbst beschrieb seine Bedeutung in vielsagender poetischer Mehrdeutigkeit.
Das Idol steht hier nicht als literarische Erklärung, sondern als Standbild, allerdings vielleicht weniger Standbild als die Tierfiguren; auch kein Tier, in meinem Traum wird es eins mit der ganzen Natur, herrscht in unserer primitiven Seele , erdachter Trost für unsere Leiden und ihren Anteil an Verschwommenem, Unfassbarem vor dem Mysterium unserer
Weitere Kostenlose Bücher