Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Herkunft und unserer Zukunft. [ 5 ]
In der linken oberen Ecke der Leinwand schrieb er den berühmten Titel: D’où Venons Nous/Que Sommes Nous/Où Allons Nous. Das Gemälde ist keine Antwort. Es ist eine Frage.
I.
WARUM EXISTIERT HÖHER ENTWICKELTES
SOZIALES LEBEN?
1.
DIE NATUR DES MENSCHEN
«Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?» Was Paul Gauguin auf der Leinwand seines tahitischen Meisterwerks in größtmögliche Schlichtheit fasste, sind tatsächlich die zentralen Fragestellungen von Religion und Philosophie. Werden wir sie jemals beantworten können? Mitunter scheint es nicht so. Oder vielleicht doch?
Die Menschheit von heute gleicht einem Tagträumer, gefangen zwischen den Einbildungen des Schlafs und dem Chaos der wirklichen Welt. Wir sind geistig auf der Suche, können aber Ort und Zeit nicht exakt festmachen. Wir haben eine Star-Wars-Zivilisation erschaffen, unterliegen aber zugleich steinzeitlichen Emotionen, besitzen mittelalterliche Institutionen und eine gottgleiche Technologie. Wir teilen nach allen Seiten aus. Wir sind furchtbar verunsichert von der schlichten Tatsache unserer Existenz, und wir sind eine Gefahr für uns selbst und das übrige Leben.
Die Religion wird dieses große Rätsel niemals lösen. Seit der Altsteinzeit hat jeder Volksstamm – und davon gab es Abertausende – sich seinen eigenen Schöpfungsmythos zugelegt. In dieser langen Traumzeit unserer Vorfahren haben übernatürliche Wesen zu Schamanen und Propheten gesprochen. Sie offenbarten sich den Sterblichen verschiedentlich als Gott, als Göttervolk, als göttliche Familie, als Großer Geist, als Sonne, als Ahnengeister, oberste Schlangen, Hybriden von allerlei Tieren, Chimären aus Mensch und Tier, allmächtige Himmelsspinnen – als alles, was sich irgend in den Träumen, Halluzinationen und der fruchtbaren Phantasie der spirituellen Führer heraufbeschwören ließ. In ihre Ausformung spielte zum Teil die Umwelt ihrer Erfinder hinein. In Polynesien stemmten Götter den Himmel von Land und Meer ab, und es folgte die Schöpfung des Lebens und der Menschheit. In den wüstenbewohnenden Patriarchaten von Judentum, Christenheit und Islam entwarfen die Propheten wie zu erwarten einen göttlichen, allmächtigen Patriarchen, der über heilige Schriften zu seinem Volk spricht.
Die Schöpfungsgeschichten verschafften den Mitgliedern jedes Stammes eine Erklärung für ihre Existenz. Damit fühlten sie sich über alle anderen Stämme hinaus geliebt und beschützt. Im Gegenzug verlangten ihre Götter absoluten Glauben und Gehorsam. Und das musste auch so sein. Der Schöpfungsmythos war das wesentliche Band, das den Stamm zusammenhielt. Er verschaffte seinen Anhängern eine einheitliche Identität, verfügte ihre Treue, stärkte die Ordnung, gewährte das Gesetz, ermunterte zu Heldenmut und Opferbereitschaft und bot einen Sinn für die Zyklen von Leben und Tod. Kein Stamm konnte lange überleben ohne Sinn für seine Existenz, der von einer Schöpfungsgeschichte definiert wurde. Dagegen standen Schwächung, Auflösung und Tod. In der frühen Stammesgeschichte musste der Mythos deshalb in Stein gehauen werden.
Der Schöpfungsmythos ist ein darwinscher Überlebensfaktor. Stammeskonflikte, bei denen die gläubigen Insider es gegen die Ungläubigen von außen aufnahmen, waren eine wesentliche Antriebskraft in der Ausformung der biologischen Natur des Menschen. Die Wahrheit jedes Mythos wohnte im Herzen der Menschen, nicht in der rationalen Vernunft. Aus sich selbst heraus konnte der Mythos Ursprung und Sinn der Menschheit niemals offenlegen. Umgekehrt aber funktioniert es: Die Offenlegung von Ursprung und Sinn der Menschheit kann womöglich Ursprung und Sinn der Mythen erklären und damit den Kern der organisierten Religion.
Lassen sich diese beiden Weltsichten irgendwie vereinbaren? Um es ehrlich und einfach zu sagen: Nein. Sie lassen sich nicht vereinbaren. Ihr Gegensatz definiert den Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen empirischer Arbeit und Glaube an das Übernatürliche.
Mit dem Rückgriff auf die mythischen Grundlagen der Religion also lässt sich das große Mysterium von der Natur des Menschen nicht klären – und genauso wenig durch Innenschau und Selbsterkenntnis. Ohne Hilfsmittel kann rationales Forschen sein eigenes Wirken niemals erfassen. Die allermeisten Hirnaktivitäten werden vom Bewusstsein nicht einmal wahrgenommen. Das Gehirn, sagte Charles Darwin einmal, ist eine Festung, die sich im
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