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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Abbott
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Beifahrertür öffnete, rutschte der junge Mann rüber, schubste ihn hart und zog die Tür zu, während der Junge hinausfiel. Dann fuhr er los. Das Ganze war blitzschnell gegangen. Der junge Mann hatte nicht bemerkt, dass der Fuß des Jungen sich in dem losen Sicherheitsgurt verfangen hatte. Er hatte die Schreie auf dem Vorplatz nicht gehört – der alte Motor war laut. Er hatte nicht bemerkt, dass er den Jungen mit achtzig Stundenkilometern über die Straße geschleift hatte. Er hatte nicht verstanden, warum der Fahrer hinter ihm die Lichthupe betätigt undwild gehupt hatte. Er hatte nicht verstanden, warum ein Lastwagenfahrer ihn am Kreisverkehr auf den Seitenstreifen gedrängt hatte. Er hatte nicht verstanden, warum die Zeitungen ihn ein Monstrum nannten. Er hatte nicht gewusst, dass der Junge da gehangen hatte.
    Henry hatte im Laden den Wagen davonfahren hören, der jaulende Motor und die knirschenden Gänge, Auftakt zu einer Katastrophe. Er rannte hinaus, Angst drehte ihm den Magen um, Erbrochenes steckte ihm bereits sauer in der Kehle. Er drückte die Tür auf und sah gerade noch den Land Rover, der den Vorplatz in einer Wolke schwarzer Abgase verließ. Durch den Qualm hatte er den Jungen auf dem Asphalt auf und nieder prallen sehen. »Opa!«, hatte Hal geschrien, »Opa!«
    Henry war dem Wagen Gott weiß was schreiend hinterhergelaufen – keine Wörter, dachte er, nur ein Schrei, ein nicht enden wollender Schrei. Er rannte, bis sein Knie nachgab. Man hatte ihn am Fahrbahnrand kriechend gefunden.

    Unten hatte der Lärm aufgehört. Jemand musste bei Henry hereingeschaut haben, vielleicht die Putzfrau, trotz seiner Anweisung, nicht zu kommen. Wer immer es war, war gegangen. Er konnte also gefahrlos hinuntergehen. Die Schlaftabletten hatten ihn durstig gemacht, er hielt seine Hände unter den Wasserhahn in der Küche und trank das kalte Wasser. Als das Telefon klingelte, ging er mit nassen Händen dran.
    »Dad …«
    Der Hörer fiel ihm aus der Hand und knallte auf die Steinplatten. Er hob ihn auf, aber die Leitung war tot. Als sein Sohn zwanzig Minuten später mit Beth eintraf (so lange brauchte man, um gemächlich von einem Haus zum anderen zu fahren), fand er seinen Vater auf dem Küchenboden sitzend vor, wie er das kaputte Telefon in den Händen wiegte und leise weinte.

Teil II
Vier Jahre früher
    1.
London, November 1999
    Als Henry die Firma endlich verließ, hatte die ganze Lobhudelei allmählich ihren Reiz verloren. Der Abschied hatte sich über einen ganzen Monat hingezogen. Geschäftsessen jeden Mittag, dreimal die Woche auch noch am Abend – und davor oder danach Reden und Überreichen von Abschiedsgeschenken. Seine Kunden hatten ihm einen goldenen Schreibstift geschenkt, die Angestellten eine alte Uhr, älter als er selbst, doch anders als er noch immer wie neu. Von seinen Partnern hatte es Arbeiten von Fotografen gegeben, die er verehrte: Doisneau, Bravo, Lartigue, alle in Eichenrahmen; die Echtheitsurkunden steckten bescheiden in braunen Umschlägen. Henry war dieser Trick der Reichen durchaus vertraut: Zurückhaltung erhöhte den Wert der Geschenke und die Großzügigkeit der Schenkenden.
    Es hatte auch Bücher gegeben, Erstausgaben von Romanen, die er mochte –
Black Mischief
von Evelyn Waugh, bei Chapman und Hall 1928 zum Preis von sieben Shillingund sechs Pence erschienen und heute 400 Pfund wert. Man hatte ein gutes Exemplar von Iris Murdochs
The Nice and the Good
für ihn aufgestöbert und es ihm, wie er bemerkte, mit mehr als nur einer Spur Ironie überreicht. Es gab einen Quittenbaum für seinen Garten in London (der für ihn ausgegraben und umgepflanzt werden würde, wann immer er es wünschte) und über hundert zumeist sehr herzliche Abschiedskarten und Briefe.
    Wenn Kunden und Kollegen bei den Abschiedsfeiern Henrys dreißig Jahre in der Firma skizzierten, senkte er den Blick. Ab und zu schaute er auf, um eine gemeinsame Erinnerung zu bestätigen oder sich auf die Freude über seinen scharfzüngigen Humor aus früheren Zeiten zu besinnen. An dem Mittwoch seiner letzten Woche veranstaltete die Firma eine offizielle Verabschiedung im Ballsaal des Hotels auf der anderen Seite des Platzes. Gegen siebzehn Uhr schlenderten die Angestellten über die Straße, Nachzügler huschten hastig, um noch einen guten Platz zu erhaschen, durch den Verkehr. Das Ende einer Epoche, hatten sie in den Fluren geraunt. Selbst die Trainees mit Hochschulabschluss, die erst seit einer Woche in der Firma

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