Die Spur der Kinder
Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht seit vier oder fünf Wochen.«
Fiona nickte und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück, als Brommer der kleinen Luna abermals zuwinkte.
Kurz darauf betrat Lunas Mutter, eine zierliche Südamerikanerin mit schweren Locken und schwarzer Sonnenbrille, den Spielplatz.
Luna, die ihre Mutter sofort entdeckte, kletterte von Pohls Schoß und lief Maria García in die Arme.
Lächelnd sah Fiona der kleinen Luna nach.
»Die großen Augen, die Korkenzieherlocken – sie sieht aus wie Sophie«, entfuhr es ihr.
»Stimmt. Jetzt, wo Sie’s sagen.« Renate Pohl straffte sich und schob ihre Brille mit dem Mittelfinger hoch. »Wenn ich mich recht erinnere, dürfte Ihre Tochter etwa im gleichen Alter gewesen sein. Etwas jünger«, sie faltete ihre Hände vor der Brust, »so eine schreckliche Sache.«
Fiona wich ihrem Blick aus. Sie hatte derartige Gespräche bislang zu vermeiden gewusst, und Pohls Mitgefühl schnürte ihr beinahe die Luft ab.
»Wo ist eigentlich Ihr Kollege heute?«, wechselte Fiona das Thema.
»GuteFrage. Sascha Funk ist seit Tagen krank. Heute wollte er allerdings kommen, fragt sich nur wann«, murrte Pohl und zog die Stirn in Falten. »Wenn er nicht aufpasst, verbaut er sich mit seiner Krankfeierei noch seine ganze Zukunft. Die Schneider von der Kita-Leitung hat ihn eh schon auf dem Kieker.« Pohl schnaufte. »Ah, sieh mal einer an – da hinten kommt er ja. Hat sich kurz vor Schluss also doch noch herbequemt.«
Der schlaksige junge Mann in Army-Hose und Kapuzenpulli stellte sein Mountainbike hinter dem Zaun ab und nahm seine iPod-Stöpsel aus den Ohren. Schuldbewusst nickte er Pohl zu, bevor ihn eine Horde Kinder freudig kreischend Richtung Spiele-Container zog.
Wortlos betrachtete Fiona den Erzieher. Wie jemand, der tagelang krank im Bett gelegen hat, sieht er jedenfalls nicht aus, fügte sie in Gedanken hinzu, als Cornelia Bachmann, eine der Mütter, mit ihrem Sohn Timmi an der Hand vor ihnen stehen blieb.
»Guten Tag, Frau Pohl. Kann ich Sie einen Moment sprechen?«, fragte sie ernst und würdigte Fiona keines Blickes.
»Aber ja, geht’s um Timmi?«, fragte die Erzieherin.
Bachmann räusperte sich. »Nein, also, das heißt, nicht direkt. Aber auch.«
»So? Was gibt’s denn?«
Bachmannwarf einen flüchtigen Blick auf Fiona, bevor sie antwortete: »Können wir das bitte unter vier Augen besprechen?«
Fiona riss die Hände hoch. »Oh, bitte. Lassen Sie sich von mir nicht stören. Ich habe bei Gesprächen über Kinder natürlich nichts mehr verloren. Klar. Ich wollte ohnehin gerade gehen.«
Sie stand auf und verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Spielplatz, während sie die Blicke der beiden Frauen noch im Nacken spürte.
***
(Am Nachmittag desselben Tages südöstlich vor Berlin)
Gelähmt vor Angst, kauerte Anne auf dem Erdboden und starrte in den düsteren Raum, in den durch ein paar Schlitze in der aus Dachlatten und Stacheldraht zusammengezimmerten Wand das fahle Licht von nebenan drang. Da war diese unerträglich stickige Luft, die es ihr beinahe unmöglich machte, zu atmen. Da war dieser beißende Gestank nach verwesendem Fleisch, der ihr in der Nase brannte. Da waren diese entsetzlichen Schmerzen, die ihren Körper bei der allerkleinsten Bewegung durchfuhren und ihr jegliches Zeitgefühl raubten. Und da war dieser kleine weißblonde Jungevon vielleicht vier Jahren, der jetzt wie ein Häufchen Elend neben ihr lag, die Arme und Beine übersät mit zahlreichen Schnittwunden. Sein schwarzweißes T-Shirt war zerschnitten. Der Stoff durch und durch blutgetränkt.
»Hey, kannst du mich hören?«, rief ihm Anne leise zu. Jeder Laut kratzte in ihrer trockenen Kehle.
Der Junge reagierte nicht. Anne versuchte es ein weiteres Mal. Nichts, lediglich der schwere Atem des Jungen zeugte davon, dass er noch lebte.
Wo zum Teufel bin ich hier?
Alles, woran Anne sich erinnerte, waren der Bungalow, das Hinterzimmer und die Hunde. Und der stinkende Lappen, der ihr den Atem genommen hatte. Dann fiel es ihr wieder ein: die Schreie. Direkt unter ihr. Anne betrachtete die Leiter, die an der Wand befestigt war und zu einer kleinen Luke in der Decke führte. Und mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie hier niemand finden würde. Sie waren in einem Verlies tief unter dem Bungalow. Was hatte das alles zu bedeuten? Eine dunkle Vorahnung beschlich sie, dass sie diesen Ort nicht mehr lebend verlassen würde.
Verdammt, reiß dich zusammen!
Mit letzter Kraft
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