Die Stadt am Ende der Zeit
Vorderrad aus, verstaute sein Gefährt im Abstellraum, zog sich trockene Kleidung an und machte sich ein schnelles Abendessen: Chili aus der Dose. Burke, sein Mitbewohner, hatte, ehe er zur Arbeit ging, einen Stapel Post mit nach oben gebracht. Burke war stellvertretender Küchenchef in einem schicken Steakhaus und arbeitete sechs Tage in der Woche bis Mitternacht. Wenn er nach Hause kam, roch er nach Steaks, Wein und Kognak. Burke war der ideale Mitbewohner, denn er war nur selten da und ließ ihn in Ruhe.
Um Burkes Erinnerung aufzufrischen, dass er die Wohnung mit ihm teilte, verstreute Jack verschiedene persönliche Dinge auf den Möbeln. Wenn er sich so bemerkbar machte und hier und da ein paar Sachen veränderte, würde Burke nicht auf die Idee kommen, Jacks Zimmer anderweitig zu vermieten. Danach ging er den Poststapel durch: nichts als Rechnungen, alle auf Burke ausgestellt.
Mit wiederkehrendem Selbstvertrauen baute Jack sich mitten in seinem kleinen Zimmer auf und übte sich darin, mit drei seiner vier Ratten und zwei Hämmern zu jonglieren. Die Ratten ließen es mit gewohnter Geduld über sich ergehen. Als er sie wieder in ihren Käfig sperrte, quietschten sie munter. Mit wachem Blick und zitternden Barthaaren warteten sie auf das Futter, mit dem Jack sie belohnte.
Zufrieden, dass seine Reflexe nach wie vor ausgezeichnet funktionierten, verstaute Jack die Hämmer in einer der unteren Kommodenschubladen. Während sich seine Augen ans Halblicht gewöhnten, konnte er in der Schublade nach und nach Kegel, Boccia- und Billardkugeln, Bauklötze und Gummihühnchen ausmachen. Mit einiger Mühe schaffte er es, die Schublade wieder zuzudrücken.
Vor knapp zwei Wochen hatte eine attraktive ältere Frau namens Ellen Crowe ihn in ihr Haus auf Capitol Hill eingeladen. Essen – Gespräche – wechselseitige Sympathie. Für Jack war es nichts Neues, dass ältere Frauen auf ihn flogen.
Er spürte die Karte in der Hemdtasche, zog sie heraus und ließ den Zeigefinger über das silberne Schnörkelmuster auf dem eleganten, cremefarbenen Kartonpapier gleiten. Die Karte enthielt die Einladung zu einem zweiten Abendessen, ohne Terminangabe. Wann immer es Ihnen passt, hatte Ellen geschrieben. Auf der Rückseite hatte sie sorgfältig die Telefonnummer einer Freien Klinik notiert.
Vielleicht hatte er ihr beim Garnelenrisotto zu viel erzählt. Erneut strich er über die Karte und fragte sich dabei, ob sie Unglück bedeutete. Doch er spürte nichts dergleichen – weder von der Karte noch von Ellen ging eine Bedrohung aus.
Während er auf der hinteren Veranda saß, fiel ihm auf, dass die gleichförmigen graubraunen Veranden der Nachbarn ein V bildeten, das unter niedrigen, schnell dahingleitenden dunklen Wolken in der Ferne verschwand. Er trank eine Tasse Kamillentee, aufgebrüht mit einem Teebeutel, den er schon dreimal benutzt hatte, und lauschte dem steten Tropfen des Regens. Jack war zu der Auffassung gelangt, dass er endlich einmal ein
glückliches Leben führte. Es spielte keine Rolle, dass er arm war. Ihm lag nichts wirklich Bedrückendes auf der Seele. Nur war er allzu oft geistesabwesend. Das hatte er auch Ellen Crowe gegenüber erwähnt.
Manchmal sah er auch seltsame Dinge – zum Beispiel riesige Ohrenkneifer.
Er balancierte den zweiten Hammer auf einem Finger, warf ihn in die Luft und fing den Stiel mit der Spitze seines Daumens auf, wo er fast ohne zu wackeln landete. Dann legte er den Hammer in den Schoß und seufzte auf. »Morgen gehe ich zum Arzt«, verkündete er laut und hüllte sich in eine Wolldecke. Wenn kein Wind ging, schlief er gern auf der überdachten Veranda. Einen Augenblick lang starrte er auf das verfilzte Wollgewebe, vergrößerte es mit dem inneren Auge, sah, wie die Fasern sich auf jede mögliche Art miteinander verknüpften und in alle möglichen Richtungen strebten. Das Leben hatte seiner Meinung nach wenig mit diesem Filzgewebe gemein. Eher ähnelte es einem Kabelgewirr inmitten eines Wusts anderer Kabel. Manche Kabel waren kurz, andere endlos lang. Alle verbanden sich so mit anderen, dass nur wenige Menschen es im Voraus durchschauen konnten. Doch Jack konnte diese Verbindungen, diese Überschneidungen spüren, lange bevor sie überhaupt in Erscheinung traten.
Seine Lider wurden schwer. Während der Himmel dunkler und dunkler wurde, nickte er auf der Veranda ein und behielt den Hammer dabei im Schoß, unter der Decke. Sein Schlaf war tief und normal. Er schnarchte. Endlich einmal
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