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Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Titel: Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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Sekretärinnen und Kopiergeräte und Telefone hatten – womöglich sogar den einen oder anderen Fall gewonnen hätte.
    Ich hatte zwar nie mit ihm gesprochen, aber ich hatte ihn im Gerichtssaal erlebt. Vic stammte aus einer wohlhabenden Gegend irgendwo in Uptown. Die meisten seiner Juristenkollegen hatten sich in lukrativeren Geschäftszweigen etabliert. Egal, an welchem Tag man das Gericht betrat – immer war Vic der Mann mit dem teuersten Anzug. Falls das jemals Anstoß erregt hatte, war nichts davon laut geworden. In New Orleans ging es ein wenig zu wie in England. Die Leute hatten mit Klassenunterschieden kein Problem.
    Vic war irgendwann nach dem 28. August 2005 verschwunden. Seine Wohnung im French Quarter war nicht überflutet worden. Das gesamte Viertel hatte nur Sturmschäden sowie eine leichte, von einem Rohrbruch unter dem Wachsmuseum verursachte Überschwemmung erlitten. Er hätte sich problemlos in einem der vielen umliegenden Restaurants, von denen einige geöffnet geblieben und alle geplündert worden waren, mit Wasser und Lebensmitteln eindecken können. Im Gebäude gab es sogar ein kleines Notstromaggregat, keine Seltenheit in New Orleans, wo abhängig von Jahreszeit und jeweiligem Wohnbezirk mindestens ein Mal im Monat, wenn nicht gar ein Mal pro Woche, der Strom ausfiel. Leon hatte Vic gesucht, und Vics Freunde hatten Vic gesucht, sogar die Polizei hatte nach Vic gesucht. Sie hatten nichts gefunden.
    Er war verschwunden.
    »Und dann, am darauffolgenden Samstag«, fuhr Leon fort, »nachdem die Stadt geräumt worden war, habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen. Ich meine, ich habe mir ernstlich Sorgen gemacht. Denn in der Zwischenzeit hätte es ihm möglich sein müssen, an ein Telefon zu kommen. Es gab Schwarze Bretter für Vermisstenanzeigen. Webseiten, über die man Kontakt aufnehmen konnte. Ich habe die Schwarzen Bretter abgeklappert, alle Hotlines angerufen und so weiter. Ich habe die Notunterkünfte, die Pflegeheime und Krankenhäuser angerufen. Nichts.«
    »Irgendwelche Hinweise?«, fragte ich.
    Leon schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Spur von ihm. Ich bin jedem Hinweis auf eine ›weiße, männliche Person mittleren Alters‹ nachgegangen. Und von denen gab es eine Menge. Wissen Sie, manche Leute sind einfach durchgedreht. Besonders die älteren. Viele von denen haben die Strapazen nicht verkraftet und sind einfach zusammengebrochen, psychisch. Manche Leute wussten plötzlich nicht mehr, wer sie waren. Gott sei Dank gibt es das Internet. Wissen Sie, die Krankenhäuser haben Fotos von alten Leuten veröffentlicht in der Hoffnung, irgendjemand würde sie erkennen und abholen. Und auch von jüngeren Leuten. Besonders, wenn sie, na ja, Sie wissen schon, behindert waren oder krank oder schon vor dem Sturm geistig gestört.« Er hielt inne. »Wie ein Fundbüro, nur für Menschen.«
    Wir schwiegen für eine Weile. Zum ersten Mal an diesem Tag zeigte sich die Sonne. Sie schien lange genug auf Leons Gesicht, um mich auf seine Narben aufmerksam zu machen, dann verschwand sie wieder hinter einer Wolke. Leons Haut war unter der Oberfläche vernarbt. Das waren Wunden, die nur das geschulte Auge erkennen konnte.
    Leon runzelte die Stirn und sprach weiter. »Jedenfalls habe ich alles versucht. Ich habe Krankenhäuser und Pflegeheime angerufen und alle Hilfsorganisationen, einfach alle. Vergeblich. Keine Spur von ihm. Ich habe sogar in der Rechtsmedizin angerufen, weil ich dachte, vielleicht liegt er da. Nichts. Und dann habe ich mehr oder weniger aufgegeben und Sie angerufen.«
    »Okay«, sagte ich. »Was, glauben Sie, ist passiert?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Leon. »Ich meine, bei dem Sturm … manche Leute sind auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Es war ja nicht wie im Krieg, wo einer klingelt und einem die traurige Nachricht überbringt, dass ein Angehöriger gefallen ist. Es war völlig unorganisiert, die Leute waren einfach weg.«
    Wir sahen einander an.
    »Wie groß war er?«, fragte ich.
    »Wie groß?«, fragte Leon. »Wie groß? So etwa eins achtzig.« Das sagen die Leute immer, wenn sie nicht wissen, wie groß jemand ist. Für Frauen lautet die Standardantwort eins siebzig. Aber vermutlich traf die Größenangabe ungefähr zu. Der Wasserpegel im French Quarter hatte nicht ansatzweise diese Höhe erreicht. Falls der Mann ertrunken war, musste er sich dabei große Mühe gegeben haben.
    »Wäre denkbar, dass er unter die Helfer gegangen ist?«, fragte ich. »Dass er in einem der

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