Der Ehrengast
EIN VOGEL SCHRIE auf dem Dach, und er erwachte. Es war mitten am Nachmittag, in der Hitze, in Afrika; er wußte sofort, wo er war. Nicht einmal während der Sekunden der Schwebe zwischen Schlafzustand und Wachen glaubte er sich zurück daheim in dem Haus in Wiltshire, das jetzt tief im Schnee eines harten Winters lag. Die Straße zum Dorf würde wohl gesperrt sein und der Hund über die weichen Felder laufen, mit dem Atem eines Drachen … das Zentrum des Hauses würde durchwärmt sein von der Ölfeuerung und den roten Farbschattierungen, den seidigen Tönen von Olivias Sachen – den Teppichen, den Stücken aus Kirsche und Satinholz – und den roten irdenen Töpfen, den Perlstickereien, den beiden kunstvoll gearbeiteten Holzschnitzereien, die sie einst im Kongo gefunden hatten. Vor ein paar Tagen noch war er in jenem Haus gewesen und hatte für die Abreise gepackt – in jener banalen Aneinanderreihung praktischer Handlungen, in denen sich Entschlüsse in Realität auflösen.
Sollte es mit dem Boiler irgendwelche Probleme geben, dann ruf um Himmels willen Mackie, damit er sich’s ansieht, bevor du wen in die Stadt schickst. – Wie schade, daß du deine kurzen Hosen weggegeben hast. – Kaum anzunehmen, daß ich irgendwo sein werde, wo ich noch wagen dürfte, in Shorts aufzutauchen. – Aber du hast um die Taille kaum einen Zentimeter zugenommen – das weiß ich von deinen Pyjamahosen, ich nehme für die neuen Gummibänder haargenau das gleiche Maß wie eh und je.
Drei Monate davor hatte Adamson Mweta vor einem Steak-House in Kensington gestanden und zu ihm gesagt: Aber natürlich kommst du jetzt wieder zu uns. Er war nach Hause gefahren und hatte die Fahrt auf der leeren Straße verlangsamt, die durch das pralle, menschenleere sommerliche Zwielicht – endlich – zum Haus hinführte. Wohnsiedlungen überschwemmen in ganz England die Dörfer, hier aber war die Entwicklung umgekehrtworden; das Haus war einst ein herrschaftliches Landhaus gewesen (davor noch, so glaubte Olivia, eine Abtei), aber im Zuge der Landflucht hatte sich das Dorf im neunzehnten Jahrhundert entvölkert, seine autonome Stellung eingebüßt und war gestorben; die Kaufläden mit angegliederter Poststelle hatten geschlossen, die Bauernhäuser waren verfallen; Wälder und Wiesen traten an die Stelle der Felder, nur ein paar Häuser blieben übrig, die von Leuten gekauft wurden, deren Sehnsucht nach Landleben durch die Unannehmlichkeiten der Isolation nicht beeinträchtigt werden konnte. Olivia hatte ganz recht, wenn sie meinte, der Ort müsse eigentlich traurig stimmen, aber so war es nicht; statt dessen blühte er wieder auf: Das Land war zurückgekehrt, hatte das sichere Gefühl von unbeugsamer Friedfertigkeit und Fruchtbarkeit mit sich gebracht – ein neuer Anfang. Und sie waren nur ein wenig mehr als zwei Stunden von London entfernt, von ihren Töchtern und ihren Freunden. Er hatte, seit er Afrika vor zehn Jahren endgültig verlassen hatte, engen Kontakt zu Adamson Mweta und den anderen Führern der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegung gehalten. Er hatte eine Menge Zeit dafür geopfert, nach London zu fahren, um sie für ihre Konferenzen im Kolonialministerium zu beraten und um den verschiedenen Delegationen, die zur Einreichung von Petitionen gegen die alte Verfassung und zu Verhandlungen über die Unabhängigkeit ihres Landes gekommen waren, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln den Weg zu ebnen. Dort, in jenem afrikanischen Land hatte er als Beamter des Kolonialministeriums gedient, bis die Siedler schließlich erreicht hatten, daß man ihn wegen Unterstützung der People’s Independence Party, der PIP , abberief und abschob. Zu seiner Frau sagte er: »Mweta hat mich eingeladen, als Gast wieder hinzukommen.«
»Nun, wenn überhaupt jemand an den Unabhängigkeitsfeiern teilnimmt, dann solltest du es sein. Das ist wunderbar.« Sie hatte Mweta immer mit Sandwichpaketen versorgt, die dieser mitnahm, wenn er an Wochenenden auf dem Fahrrad Meilen um Meilen durch die Provinz Gala fuhr, um Reden zu halten.
Bevor sie sich tags darauf trennten, sagte er zu Adamson Mweta: »Leider wird Olivia nicht zu den Unabhängigkeitsfeiern kommen können – unsere älteste Tochter erwartet genau um diese Zeit ein Kind.«
Mit seinem bedächtigen, schüchternen Lächeln, das wie Licht größer und stärker zu werden schien, während sein Blick einen festhielt, sagte Mweta: »Du meinst die kleine Venetia? Sie wird Mutter?«
»Ich fürchte
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