Die Stadt der verkauften Traeume
Boden saß, einen kurzen Blick zu. »Hast du Hunger?«, fragte sie ihn.
Zuerst bemerkte Mark gar nicht, dass sie mit ihm sprach. Und dann spürte er plötzlich, dass er regelrecht ausgehungert war. Er nickte eifrig. Das Mädchen lächelte.
»Darf er schon essen?«, fragte sie den Doktor, der die Lippen schürzte.
»Ich denke schon«, antwortete er bedächtig. »Ja, gib ihm zuerst etwas zu essen, dann kannst du ihn ein wenig herumführen. Großvater und ich müssen eine sehr wichtige Angelegenheit besprechen.«
Lily nickte wieder, drehte sich zu Mark und streckte ihm die Hand entgegen. »Zuallererst besichtigen wir … die Küche! Hier geht’s lang.«
Mark nahm ihre Hand. Seine eigene kam ihm gegen ihre dunklen Finger viel blasser vor, doch vielleicht lag es nur daran, dass der übliche Schmutz abgewaschen war. Zitternd erhob er sich. Er war größer als sie. Sie ließ ihn wieder los und zeigte zur Treppe. Von hier oben sah sie weniger übernatürlich aus.
»Fünf Türen runter«, sagte sie. »Geh rein und warte dort auf mich. Wenn du die Töpfe anrührst, wirst du es bitter bereuen. Ich muss noch kurz hier beim Doktor bleiben.«
Mark nickte und überlegte, was er darauf antworten sollte, aber da war er schon hinausgegangen und auf dem Weg nach unten. Er war noch immer zu keinem Ergebnis gekommen, als er die fünfte Tür erreicht hatte und die Klinke herunterdrückte. Dann wurden alle Gedanken an Worte von dem überwältigenden Duft, der durch die offene Tür strömte, aus seinem Kopf verbannt. Es roch nach dem Essen, das in mehreren Töpfen auf einem rauchigen Feuer brodelte. Mit einem Mal war ihm, als wäre er wieder unten am Fluss, bevor die Graue Seuche gekommen war, als ihn am Abend die Düfte von Hunderten von Suppen und Eintöpfen durch die Gassen nach Hause geführt hatten, wo er sich mit seinen Brüdern und Schwestern um die Schüssel geschart und die Reste des letzten Tagesfangs seines Vaters ausgekratzt hatte. Gerade als er sich auf den erstbesten Topf stürzen und den Deckel abheben wollte, hörte er über sich ein Geräusch. Lily und der Doktor unterhielten sich. Einen Moment lang rang die Neugier mit dem Hunger. Dann schob er sich geräuschlos rückwärts wieder die Treppe hinauf und spitzte die Ohren.
»… darf der Alte nichts davon erfahren«, sagte der Doktor gerade. »Noch nicht. Er meint, wir könnten keinen weiteren Diener brauchen. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass ich es ohne Hilfe nicht mehr schaffe, aber … Nun ja, du kennst ihn ja.«
»Allerdings, Sir. Dann soll Mark Ihnen also helfen?«
»Sobald es ihm wieder halbwegs gut geht, Lily. Er ist mein erster Fall, der vollständig von mir geheilt worden ist«, fügte der Doktor mit einem Anflug von Stolz in der Stimme hinzu. »Darum muss ich sehr vorsichtig sein.«
Mark lächelte. Er wusste nicht, was da vor sich ging, aber wer auch immer diese Leute waren, sie würden ihn bei sich behalten.
»Und …«, kam Lily Stimme von oben herab, »… weiß er schon, dass sein Vater ihn verkauft hat?«
Es entstand eine Pause.
»Ich dachte mir, diese Neuigkeit bringst am besten du ihm bei, Lily«, sagte der Doktor und seufzte. »Schließlich weißt du, wie es ist, wenn man sich anpassen muss …«
»Wie Sie wünschen, Sir.«
Mark stand da wie betäubt. Mit einem Mal war ihm der Appetit völlig vergangen.
KAPITEL 2
Der Siegelring
»Nun, Lily?«
»Sir?«
»Wie geht es dem Jungen?«
»Noch unverändert.«
Es war in den ersten Tagen ihr Ritual. Lily saß auf einer alten Bank vor Marks Zimmer und stickte bei Kerzenlicht Tischdecken oder las. Etwa jede Stunde stieg Doktor Theophilus aus seinen Kellerräumen herauf und erkundigte sich mit hoffnungsfrohem Blick nach Mark. Er erhielt immer dieselbe Antwort, worauf er besorgt nickte und wieder davonging. Meist kehrte er zu seinen Forschungsarbeiten zurück. Lily ging nie dort hinunter. Sie wusste, dass er unten im Keller Menschenleichen hatte, Seuchenopfer, die er wissenschaftlich sezierte. Das war natürlich notwendig, wenn er diese Krankheit heilen wollte, aber wenn Lily daran dachte, dass er den ganzen Tag dort arbeitete, von den starren, unheimlichen Blicken der Toten beobachtet, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
Diesmal setzte sich der Doktor neben sie. Er strich sich nachdenklich über den dünnen Schnurrbart – sicheres Zeichen dafür, dass ihn etwas beunruhigte. Was schließlich nichts Ungewöhnliches war.
»Was glaubst du, wie lange er da drinnen bleiben
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