Die Stadt der verkauften Traeume
Umhang gegeben, so wie er selbst einen trug, und den schlang Mark ganz eng um sich. Sein Gesicht schien noch blasser als sonst. Zitternd starrte er eine Weile ins Feuer, ohne etwas zu sagen.
»Das wird schon wieder«, murmelte Lily schließlich. Sie musste ihn nicht fragen, ob es schlimm gewesen war, denn das war ihm tief in jede neue Furche seines Gesichts geschrieben. Mark gab ein leises Geräusch von sich, zu schwach für ein wütendes Schnauben, aber irgendetwas in der Richtung sollte es wohl sein.
»So viele, Lily … so viele Menschen …«, sagte er, wobei seine Stimme kaum lauter war als das knisternde Feuer. »Sie drängen sich an einen, schieben sich an einem vorbei. Unglaubliche Menschenmengen, und sie alle enden schließlich … Am Schluss sind sie alle …« Mark schloss die Augen. »So viele. In langen Reihen übereinandergestapelt … Ich dachte, wenn ich nur genau hinsehe, finde ich vielleicht meine Schwestern … Meine Mutter …«
Lily senkte den Blick. Also hatte er Mark in ein Seuchenhospital mitgenommen. Dort verrichtete er im Augenblick seine Arbeit. Hatte der Doktor überhaupt daran gedacht? Hatte er nur einen Moment lang überlegt, wie frisch die Erinnerungen seines neuen Assistenten noch waren? Aber wenn der Doktor sich erst einmal in seine Arbeit gestürzt hatte, bemerkte er die Auswirkungen auf die Gesunden nicht mehr.
»Und am schlimmsten …« Mark stand plötzlich auf, seine Augen zuckten hin und her. »Sie hatten es alle. Ich konnte es bei den Arbeitern sehen. Alle hatten sie graue Flecken auf den Händen. Doktor Theophilus sagte ihnen, dass sie es weitergeben, wenn sie einander berühren, aber es war ihnen egal! Wie Fische, die freiwillig ins Netz gehen … So spazieren sie durch die Stadt, schieben sich durch die Menschenmengen …« Zitternd setzte sich Mark wieder hin. »Wenn sie wüssten, wie es ist, würden sie nie wieder nach draußen gehen. So wie du, Lily. Wie wir.«
Schweigend legte Lily ihre Stickerei beiseite. Sie hatte das Gefühl, dass sie etwas tun sollte – ihn trösten, umarmen, ihm sagen, dass alles gut werden würde. Sie hatte darüber gelesen. Aber Lily hatte derlei Zuneigung niemals kennen gelernt und wusste nicht, was sie sagen sollte. Stattdessen erhob sie sich und streckte die Hand nach dem Regal aus, in dem sie die Schüsseln stehen hatte. Sie schöpfte etwas aus dem Topf in eine Schüssel und schob sie ihm in die Hände.
»Iss«, sagte sie energisch. »Dann geht’s dir wieder besser.«
Lily sah ihm schweigend beim Essen zu. Auch als er fertig war, saßen sie noch eine ganze Weile stumm beieinander. Nur das Knistern des Feuers war zu hören und ab und zu ein beunruhigendes Rumpeln unter ihnen, wo der Doktor, in seine Forschungen vertieft, an seinem neuesten Heilmittel arbeitete. Schließlich zog Lily, die noch immer nicht genau wusste, was zu tun war, ihren Hocker neben Mark und legte zaghaft eine Hand auf seinen Arm.
»Erzähl mir davon«, sagte sie.
»Es …«, fing Mark unsicher an. »Die Medizin, die mich geheilt hat, hilft nicht bei allen. Manche werden davon vergiftet. Ein Mann, dem er sie gegeben hat, fing schrecklich an zu schreien …« Mark klammerte sich an die Armlehne des Stuhls, sodass die Knöchel weiß hervortraten. »Danach gab es jede Menge anderer Sachen zu tun. Geschwüre öffnen, Verbände … Er hat einem Mann das Bein abgeschnitten.« Marks Miene hellte sich ein wenig auf. »Das hat mir nicht so viel ausgemacht, denn der Mann hat nichts davon gespürt, und wir sind in ein kleines Zimmer gegangen. Da waren nicht so viele Leute. Ich musste das Messer säubern.«
Lily hob eine Augenbraue und zog unwillkürlich die Hand zurück.
»Hat dir das etwa gefallen?«, fragte sie.
»Mehr als die Krankheit. Ein abgenommenes Bein ist nicht ansteckend.« Mark grinste schwach, streckte die eigenen Beine aus und sah sich um. Sein Blick fiel auf das feuchte Päckchen, das auf dem Tisch stand. Er nahm es nachdenklich in die Hand. »Gehört das dir?«, fragte er.
»Nein. Das ist für dich«, antwortete Lily verblüfft.
Mark sah das Päckchen mit zusammengekniffenen Augen an. »Woher weißt du das?«
»Da steht dein Name drauf. Siehst du, hier.«
Mark blickte sie erstaunt an. »Du kannst lesen?«, fragte er argwöhnisch. »Da, wo ich herkomme, können nur die Eintreiber lesen.«
»Ich habe es mir selbst beigebracht, als ich bei einem Buchbinder gearbeitet habe, bevor ich hierherkam«, sagte Lily sanft.
Mark schaute sie verwirrt an. Lily
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