Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
Vom Netzwerk:
ausgebessert gewesen; an dem Flicken hingen noch Nadel und Faden, als wäre die Arbeit nur eben kurz unterbrochen worden.
    Als sie zurückkam, stand Marks Tür offen. Vorsichtig schob sie sie ein Stück weiter auf.
    Mark saß auf seinem einfachen Bett und blickte in die andere Richtung. Bei seiner Behandlung war ihm der Kopf rasiert worden – um besser nach Zeichen einer Infektion suchen zu können, wie der Doktor sagte. Doch die Haare wuchsen schon wieder schmutzig blond nach. Als hätte er ihren Blick auf sich gespürt, drehte Mark sich um. Sein Gesicht war blass und fleckig, sein Mund trotzig verschlossen.
    Lily musterte ihn mit zur Seite geneigtem Kopf. Seine Augen waren noch immer stumpf, aber etwas Neues war in ihnen zu erkennen, etwas, was sie kannte. Neugier.
    »Willst du jetzt den Turm sehen?«
    Er nickte.
    Danach ging es mit jedem Tag leichter. Im Turm gab es so viele Zimmer zu sehen, dass Lily oft nicht mehr tun musste, als die Tür aufzustoßen. Marks Augen weiteten sich bei der geringsten Kleinigkeit vor Staunen. Als sie ihm den alten, muffigen Speisesaal zeigte, stand er minutenlang mit offenem Mund auf der Schwelle, ehe er sich traute hineinzugehen. Lily folgte ihm mit verwundertem Gesichtsausdruck.
    »Es ist nur ein Tisch, Mark«, sagte sie und klopfte mit den Knöcheln aufs Holz. »Er wird nicht plötzlich lebendig.«
    »Aber … das ist … echtes Holz«, sagte Mark und strich mit den Fingern darüber. »Warum sollte jemand aus einem derart wertvollen Material einen Tisch bauen? Wenn mein Vater so viel Holz hätte, würde er sich das beste Fischerboot auf der Ora bauen, und damit würde er zehnmal so viel fangen, wie er für meine Brüder und Schwestern braucht …«
    »Wenn du schon davon beeindruckt bist, solltest du dir mal das Tafelsilber ansehen!«, unterbrach ihn Lily hastig und beugte sich vor, um das Büfett aufzumachen. Es kam ihr zwar ein bisschen dumm vor, die Sachen des Grafen so vorzuführen, aber sie musste den Jungen irgendwie ablenken. Hauptsache, er dachte nicht an seine Familie. Besonders nachdem der Doktor ihr gesagt hatte, dass Mark, als er ihn dort weggeholt habe, bis auf seinen Vater der Letzte gewesen sei.
    Lily stellte eine große silberne Servierplatte auf den Tisch und schob sie Mark hin.
    »Wie wäre es mit einem Appetithäppchen, Sir?«, fragte sie spielerisch und zeigte auf die leere Platte.
    Mark starrte sie an, und Lily spürte, wie ihre Wangen vor Verlegenheit rot wurden. Sie machte sich hier zum Narren.
    »Tut mir leid, manchmal blödele ich mit dem Kram ein bisschen herum«, versuchte sie sich zu rechtfertigen. »Vertreibe mir ein wenig die Zeit, wenn ich allein bin … wenn ich meine Arbeit erledigt habe. Sonst denke ich zu viel nach.« Lily zog sich einen Stuhl vom Tisch heran und setzte sich darauf. »Das ist nicht immer eine gute Idee.«
    »Ver… vermutlich«, sagte Mark und betrachtete sein Spiegelbild in der polierten Silberfläche. »So ein Haus wie das hier … gibt einem schon zu denken. Es ist wie im Märchen«, fuhr er fort und umfasste mit einer Geste das gesamte stille Speisezimmer. »Ein verzauberter Turm voller alter, vergessener Zimmer … Eine riesige Wendeltreppe … Magische Fenster in andere Welten …«
    »Wenn sie magisch wären, würden sie sich selbst abstauben«, murmelte Lily.
    Marks Mundwinkel zuckten, und Lily grinste in sich hinein. Der Ansatz eines Lächelns.
    »Es ist nur ein Turm«, fuhr sie leise fort. »Der Graf braucht ihn für seine Geschäfte.«
    »Der Graf?«, fragte Mark.
    »Graf Stelli. Mein Herr.«
    »Ich dachte, der Doktor …«
    »Doktor Theophilus ist dein Herr«, sagte Lily und bedauerte es sofort. Mark schlug die Augen nieder; sie konnte sehen, wie er seine Farbe wieder verlor. Sie wusste, wie es ihm jetzt gehen musste. Ihr war es nicht anders ergangen, als das Waisenhaus sie verkauft hatte, damals, als sie halb so alt gewesen war wie Mark. Mit einem Mal war ihr nichts anderes übriggeblieben, als zu arbeiten; andernfalls hatten sie das Hecht, einem einfach nichts mehr zu essen zu geben. Niemand hörte auf ein sprechendes Werkzeug. Man lebte mit geborgter Zeit und wartete auf den Tag, an dem man für nutzlos erklärt und weggeworfen würde.
    Mark setzte sich auf einen der anderen Stühle. Er kniff die Lippen so fest zusammen, dass sie ganz weiß wurden. Lily streckte den Arm quer über den Tisch und legte ihre Hand neben seine.
    »Er ist der Enkel des Grafen, aber der Graf erlaubt ihm, im Keller des Turms seine Praxis

Weitere Kostenlose Bücher