Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
eleganten Dame her.
»Seht nur, das muß sie sein! Habt ihr jemals ein solches Kleid gesehen? «
»Schön ist sie. Viel schöner als ihre Mutter, diese Schlampe Lettice! «
»Wenn du bedenkst, daß sie aus dem Armenhaus kommt! Kein Mensch könnte ihr das heute mehr anmerken!«
»Als ob sie eine Dame bei Hofe wäre. Und nicht die Tochter von Ambrose Askew, dem Armenhausaufseher.«
»Ich sehe sie noch vor mir, wie sie früher war. So ein kleines, dünnes Mädchen, und immerzu gehustet hat sie! Ich dachte nicht, daß sie älter als fünf wird!«
Mary ignorierte das Gerede; sie lief an den Stimmen vorbei und tat so, als habe sie sie nicht gehört. Innerlich lächelte sie und dachte: Ja, Glanz und Elend der Mary Askew, welch ein Stoff zum Träumen! Elend und Glanz, verbesserte sie sich gleich darauf, ich habe zuerst meine Niederlagen gehabt, aber wenigstens folgte ihnen ein Triumph, anstatt ihnen vorauszugehen.
Doch ganz im Inneren tat ihre eigene Heiterkeit ihr weh. Shadow’s
Eyes, das Dorf ihrer Kindheit, war zu sehr mit schlimmen Erinnerungen belastet, und sich mit diesen zu amüsieren gelang ihr nicht. Unversehens tauchten die Alpträume auf. Betrunkene Männer, ein Sommerabend, an dem Mary durch die Gassen lief, gierige Blicke, die sie verfolgten, Hände, die nach ihr griffen, sie zu Boden zwangen, feuchte Lippen auf ihrem Gesicht, ihrem Hals, ihren Brüsten. Noch heute hatte Mary das Gefühl, würgen zu müssen, um den Ekel loszuwerden, zu rennen, um die Schande hinter sich zu lassen. Mit aller Kraft nahm sie sich zusammen. Es gab kein Haus, aus dem heraus sie nicht beobachtet wurde.
Ihre Schritte wurden nur wenig schneller, doch ihr Herz jagte. Sie kümmerte sich nicht darum, daß der Saum ihres Kleides im Schmutz schleifte, daß sie mit ihren schönen, zarten Schuhen in faule Eier, welke Salatblätter und anderen Unrat trat. Viel schlimmer war, daß sie keine Luft bekam zwischen den engen Häusern. In ihren Seiten fühlte sie stechenden Schmerz, ihr Atem ging schwer. Es war zuviel, was auf sie einstürmte, Ereignisse und Stimmen, die weit zurücklagen, anzuhören wie ein seltsam wispernder Chor, verhaltene Laute einer unwirklichen Geisterschar. Unwillkürlich verhielt Mary ihren Schritt am Beginn der Gasse, in der das Armenhaus stand. Sie wollte dort nicht vorübergehen, noch nicht.
Statt dessen eilte sie zum Dorf hinaus, einen Weg, den sie hundertmal gelaufen war, damals, in den glücklichen, überschwenglichen Tagen ihrer frühen Jugend, als sie in gerade jener ersten Dämmerung, wie sie auch jetzt herrschte, Abend für Abend davonlief, um sich draußen irgendwo zwischen den sanftgewellten grünen Wiesen und den schwarzen Wäldern mit Frederic zu treffen und in einer jener wunderbaren Umarmungen zu träumen, die sie dem Grauen des Armenhauses, der drangvollen Enge des Dorfes entriß.
Heute fand sie nicht die Kraft, den eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen. An seinem Ende wartete kein Frederic, es warteten nur die Trümmer einer Vergangenheit, bedeckt mit dem Sand und der Erde, die der Wind über sie geweht hatte. Sie blieb, wie sie selbst verwundert feststellte, vor dem Friedhofstor stehen. Im Haus des Priesters brannten noch Kerzen, wie sie durch die Bäume und Büsche hindurch erkennen konnte. Von Fernhill hingegen, dem Herrensitz
der Familie Fairchild, denen das ganze Land um Shadow’s Eyes gehörte, drang kein Lichtschein herüber. Der Park des Schlosses grenzte an den Friedhof, war jedoch von einer hohen Mauer umgeben und dicht bestanden mit alten Bäumen. Noch heute, so schien es Mary, bewahrten die Äste Lady Cathleens verzweifelte Stimme, mit der sie den Priester anflehte, ihre Eheschließung mit Lord Robert Cavendor zu verhindern.
»Am Beginn dieser Ehe wird ein Mord stehen, ich schwöre es!« Waren es wirklich schon vierzehn Jahre her, seitdem Cathleen diese Worte geschrien und die atemlos lauschende Mary in Furcht und Schrecken versetzt hatte? Als fortdauerndes Echo schwangen sie in den dunklen, rauschenden Blättern des Parks. Aber natürlich, in Wirklichkeit war alles still, das wußte Mary. Das Dorf hatte sie verlassen, vor ihr taten sich die Wiesen auf. Wenn sie zurückblickte, konnte sie die Sonne leuchtendrot im Westen stehen sehen. Sie erhellte den Himmel zu einem sanften Türkis und ließ die obersten Blätter auf den Bäumen golden glänzen. Die Nacht warf bereits lange Schatten über die Erde, tauchte das Wasser der Bäche in Dunkelheit, breitete sich über die Täler und kroch
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