Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
geben, an dem sie sich festhalten konnte, aber sie fand ihn nicht, so sehr sie auch suchte. Dabei mußte sie an etwas denken, was weit zurücklag – irgendwann war es genauso gewesen, sie hatte dagelegen und mit fiebrigen, brennenden
Augen nach einem Halt gesucht. Es war der lange, stille Nachmittag gewesen, an dem Jane geboren wurde, jener Nachmittag vor sieben Jahren, als sie in London Anna Boleyn zum Tode verurteilten, als Nicolas verhaftet wurde, als Mary mit letzter Kraft das Sherwood Inn erreichte und ewige, endlose Stunden lang auf die Hilfe wartete, die Will ihr bringen sollte. Sie wußte wieder, daß die Dunkelheit gekommen war und zwei schattenhafte Gestalten an ihr Bett getreten waren, Will und die alte Myrrhinia, und wie sie in diesem Augenblick den Namen gefunden hatte.
»Frederic!«
Aber heute konnte Frederic ihr nicht mehr helfen. Er hatte sich mit all den anderen zu dem Heer boshafter Erinnerungen verschworen, das sie so gnadenlos attackierte. Es gab einen anderen, und er war ihr ganz nah. Gerade erst hatte sie an seinen Namen gedacht. Ihr Schluchzen verebbte. Sie hob den Kopf.
»Nicolas«, sagte sie. Alle Kraft, die Lettices Grab, die dunklen Gassen, das verlassene Haus ihr genommen hatten, strömte in sie zurück, als warme, lebendige Zuversicht. Mary richtete sich auf. Ihre Hand griff nach der Tischkante, sie zog sich hoch, bis sie auf beiden Füßen stand. Die verworrenen Empfindungen glitten von ihr ab. Sie wußte wieder, daß sie allein war und nichts als Stille sie umgab, unterbrochen nur von dem leisen Huschen der Ratten. Die Stimmen, das Gelächter, der Bierdunst und das Gegröhle gehörten der Vergangenheit an; weder brauchte sie sich davor zu fürchten, noch länger darüber nachzudenken.
»Nicolas«, sagte sie noch einmal, und der Name klang wie ein Zauberwort in der Dunkelheit. Sie strich sich den Staub vom Kleid, wischte sich die Tränen von den Wangen. Wie konnte sie nur hier liegen und weinen! Die Vergangenheit lag weit hinter ihr und würde sie nie wieder einholen. All die Jahre hindurch hatte sie sich von ihr jagen und hetzen lassen, hatte gearbeitet, ohne sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen. Sie hatte alles erreicht, was sie wollte, nun war die Zeit, da sie sich ausruhen durfte.
Mary bemerkte, wie sie ein ungekanntes Gefühl von Glück befiel, eine überquellende, sprudelnde Freude, Herausforderung und Erwartung, hemmungslose Ungeduld. Jetzt gleich sollte er da sein und
sie in seine Arme nehmen. Er hatte sie einmal aus Shadow’s Eyes befreit und bis heute reichte die Erinnerung an seinen Namen, um sie erneut zu befreien. Zwei Dinge hatte sie stets begehrt, damals und jetzt: Marmalon und einen Mann, der sie liebte. Marmalon hatte sie. Zum Teufel, am Mann sollte es nicht scheitern! Ihre Augen funkelten in der Dunkelheit. Natürlich wartete Nicolas, er konnte ja gar nichts anderes tun.
Vorsichtig ertastete sie sich ihren Weg nach draußen. Als sie über die ausgetretenen Stufen auf die Gasse trat, atmete sie leichter. Auch draußen stank es, aber die Luft war nicht gar so stickig wie innen im Haus. Sie sah zwischen den Häuserreihen hindurch. Dort ging es zum Oakwood House, aber auf einmal war sie ganz wach und verspürte keine Lust, schlafen zu gehen. Sie blickte in die andere Richtung, konnte den vertrauten, helleren Fleck am Ende der Häuser erkennen. Bei Tag wie bei Nacht war es dort heller, dort lag das Licht. Sie wußte, daß sie dorthin gehen wollte. Sie wollte Gras unter den Füßen spüren, den Geruch der Sommerwiesen atmen, Erde, Blätter und klebriges Harz riechen. Sie lief die Gasse entlang, den Kopf hoch erhoben. Gleich würden die Mauern weichen, sie würde Bäche sprudeln und Eulen rufen hören, den Himmel sehen und die Sterne. Ihr fiel ein, was Nicolas gesagt hatte, als er nach Marmalon zurückgekehrt war.
Stille und Erinnerungen erträgt er nicht, dachte sie ungeduldig, ach, die müssen wir doch alle ertragen!
Ihr Ärger gab ihr Kraft. Ihr altes, unerschütterliches Selbstvertrauen erwachte, so stark, daß es keinen Widerspruch duldete.
»Natürlich ist er da, wenn ich komme«, sagte sie laut, »er redet ja nur. Und ich geb’ einfach nichts darauf!«
Sie blieb noch einmal stehen und sah zurück zu dem Haus, in dem sie allzu viele Jahre verbracht, allzu viele Tränen geweint, das sie allzu viel Kraft gekostet hatte.
»Lieber Himmel«, die Gereiztheit, die sie stets befiel, wenn sie sich einer unnötigen Verschwendung gegenüber sah, klang in ihrer
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