Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Mary de Maurois hatte ein feines Gesicht, große blaugraue Augen und einen vollen, meist etwas hochmütig geschwungenen Mund. Ihre Haut war blaß, wie sich das für eine vornehme Dame gehörte, und wirkte unter der Fülle des dicken, rotbraunen Haares glatt und weiß wie ein abgeschliffener Kieselstein. Die hochgebogenen Augenbrauen verliehen ihren Zügen manchmal ein leicht überhebliches Aussehen, die klare Stirn ließ auf mehr Klugheit schließen, als es einer Frau ihrer Zeit zukam, die schmalen Wangen machten sie ernst und etwas melancholisch. Wer genau hinsah, konnte in dem leisen spöttischen Zug, der über dem Mund lag, Großzügigkeit und Humor entdecken, und ihr Lächeln ließ außergewöhnliche Zärtlichkeit vermuten, doch auf den ersten Blick wurde niemand dieser verborgenen Mädchenhaftigkeit gewahr. Selbstbeherrschung, Erfahrenheit und Mut traten zu deutlich hervor. Daß in Gestalt und Bewegung zuviel Tatkraft lag für eine Dame von Stand, bemerkte ebenfalls niemand sofort. Mary war stets zu teuer gekleidet, als daß man sie für etwas anderes als eine wirkliche Lady hätte halten können.
Als sie an diesem warmen Sommertag des Jahres 1543 nach Shadow’s Eyes kam, einem gottverlassenen Dorf nahe Canterbury, in dem noch der ganze faulige Atem des Mittelalters wehte, wirkte sie sehr selbstsicher und unnahbar und beinahe älter als sechsundzwanzig. Sie sah aus wie eine Dame, die bei Hofe in London aus und ein ging, mittels feingesponnener Intrigen Einfluß auf die Politik
ausübte und sich in einer Umgebung von Neid und Gift und Mißgunst behaupten konnte. Sie trug ein Kleid aus hellgrauer Seide, um dessen Ausschnitt sich grün gefärbte Marabufedern wanden und unter dessen seitlich geschlitzten Ärmeln die grüne Seide des Unterkleides hervorsah. Um Marys schmalen Hals lag eine Kette aus Silber, ihre Füße steckten in feinen Schuhen aus weichem Leder.
Die Wirtin des Gasthauses Oakwood House stürzte auf die Gasse hinaus, als sie der reichen Dame ansichtig wurde, der soeben ihr Begleiter vom Pferd hinunterhalf. Mit ihren scharfen Augen erkannte die geschäftstüchtige Alte sofort, daß das Kleid der Besucherin teuer, ihr Schmuck echt waren. Sie verneigte sich tief.
»Mylady wollen meinem bescheidenen Haus die Ehre erweisen? « fragte sie eifrig.
»Soweit ich mich erinnere, gibt es kein anderes Gasthaus in Shadow’s Eyes«, antwortete Mary kühl.
»Soweit Sie sich...« Die Wirtin hob den Kopf und starrte die fremde Besucherin an. Ihre Miene drückte tiefste Überraschung aus.
»Das ist... das kann doch nicht sein! Sie sind... Mary Askew?«
»Mrs. de Maurois inzwischen. Sie sollten das wissen. Schließlich habe ich damals meine Hochzeitsnacht in Ihrem Haus verbracht.« Mary betrachtete das altersschwache, windschiefe Wirtshaus mit seinen kleinen Fenstern und dem verrosteten Schild über der Tür.
»Mein Gott«, sagte sie leise, »es ist schon so lange her!«
»Ungefähr zehn Jahre müssen es sein! Ach, daß ich Sie noch einmal wiedersehe! Niemand wußte doch, was aus Ihnen geworden ist, nachdem Sie mit diesem fremden, schönen Mann davongegangen sind. Ist er heute nicht hier?« Die Wirtin blickte sich neugierig um.
»Nein«, sagte Mary kurz, »er ist nicht hier. Er wird auch nicht kommen. «
»Oh... nun, ich werde jemanden holen wegen der Pferde...«
»Danke. Mein Diener macht das schon. Bitte zeigen Sie mir mein Zimmer. Ich bin sehr müde.«
»Natürlich, gern. Sofort.« Die Wirtin eilte voraus. Sie keuchte, weil ihre Füße ihren schweren Körper kaum trugen. Ihr feistes, rotes
Gesicht glühte vor Aufregung. Mary Askew war zurückgekehrt, und das noch als reiche Frau! Gleich nachher mußte sie das im Schankraum erzählen, und noch ehe die Sonne unterging, würde jeder Mensch in Shadow’s Eyes es wissen. Schnaufend vor Anstrengung öffnete sie die Tür zu ihrem schönsten Zimmer.
»Hier«, sagte sie, »dies ist Ihres. Das beste, das ich habe. Erinnern Sie sich? Das gleiche hatten Sie und Mr. de Maurois damals auch!«
»Ja, ich weiß. «Marys Blick überschaute den kleinen Raum, wanderte von dem staubigen Teppich auf dem Fußboden über das wuchtige Bett, dessen Quietschen und Knarren sie förmlich hören konnte, bis zu der Blechschüssel vor dem Fenster, die noch verbogener schien als früher. Auf dem Tisch stand ein hölzerner Teller mit einem alten, klebrigen Brei darauf, um den sich unzählige Fliegen versammelt hatten. Die Wirtin griff danach und murmelte beschämt: »Hat irgend jemand
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