Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
ausgeruht und frisch gewaschen, mit einem Geschichtsbuch nach oben kam, hatte der Wind ein wenig gedreht, und sie befanden sich immer noch auf dem Kurs aufs offene Meer hinaus. Überrascht registrierte Clem, dass er nicht einmal fragte, wohin sie segelten. Er zeigte keinerlei Interesse an den Karten und setzte offenbar vollstes Vertrauen in Johnny. Er wirkte ganz anders als sonst, distanzierter. Sie hatte keine Ahnung, was in ihm vorging. Seine Miene verriet rein gar nichts. Von einer ungewohnten Ruhe und Versonnenheit erfüllt, setzte sie sich mit ihrem eigenen Buch – dem Krishnamurti, durch den sie sich immer noch kämpfte – ans Heck. An sich waren seine Thesen höchst faszinierend, trotzdem schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Von Zeit zu Zeit sah sie auf und fragte sich, wann endlich Land in Sicht und damit der Zeitpunkt für sie käme, eine Entscheidung zu treffen.
Den ganzen Tag über blieben sie alle weitgehend für sich, jeder in seiner eigenen Welt. Sie lasen, dösten in der Sonne, bereiteten sich ein Sandwich zu, schliefen und spielten mit Smudge. Am späten Nachmittag löste Clem Johnny am Ruder ab. Er war so gedankenverloren, dass sie ihn mehrmals ansprechen musste, bevor er reagierte. Er stand auf und wies sie an, den Kurs zu halten, dann legte er sich an Deck auf den Bauch und schlief praktisch auf der Stelle ein. Sie sah zu, wie sich sein gebräunter Rücken mit jedem Atemzug hob und senkte, konnte jedoch nicht länger die Hand ausstrecken und ihn berühren. Verloren in ihren widersprüchlichen Gedanken, segelte sie dahin, während die Sonne weiter über den Himmel wanderte. In der Ferne glaubte sie Land zu erkennen, aber es könnten ebenso gut auch dichte Wolken sein. Weit und breit waren weder Inseln noch andere Boote zu sehen; ringsum herrschte das blanke Nichts. Das Meer war wie eine endlose Wildnis. Annie saß neben ihr und nähte. Sie war ganz still, schien aber durchaus bei klarem Verstand zu sein, während sie sich durch einen Kleiderstapel arbeitete, der dringend geflickt werden musste – Sachen für eine Zukunft ohne Löcher.
Frank und Smudge saßen auf dem Heck und sangen Abklatschlieder.
»A sailor went to sea sea sea«, hörte Clem sie mit ihrer hohen vergnügten Stimme singen, begleitet von Franks lautem, dröhnendem Bass. Klatsch, klatsch, klatsch.
Ihre Gedanken schweiften zu ihren eigenen Kindern, die sie eines Tages bekommen würde . Sie hatte sich immer blonde Kinder mit Johnnys grünen Augen und ihrem kupferroten Haar ausgemalt, doch nun sah sie plötzlich dunkle, kräftige Knirpse mit dunklen, undurchdringlichen Augen vor sich, oder von jeder Sorte eines. Sie konnte es nicht länger sagen.
Nach einer Weile fuhr Johnny abrupt hoch, als hätte er einen schlechten Traum gehabt. Als Erstes schweifte sein Blick zu den Segeln hinauf, um zu sehen, wie stark der Wind blies, dann auf den Kompass. Dann sah er sich um, ließ den Blick über Annie, Smudge und Frank und schließlich Clem schweifen. Sie lächelte, doch es war kein aufrichtiges Lächeln. Er erwiderte es, ebenso unaufrichtig. Zwischen ihnen befand sich ein riesiger Ozean, und sie wünschte, sie könnte ihn überwinden. Wortlos ging er nach unten und setzte den Wasserkessel auf. Clem und Annie beobachteten ihn; beide wünschten sich, er würde sich ihnen zuwenden, sich ihnen widmen.
Clem fiel auf, dass Annie ihre Näharbeit unterbrach, wann immer Johnny in der Nähe war. Sie registrierte, wie sie ihn ansah, die Traurigkeit in ihren Augen ebenso wie die Entschlossenheit in Johnnys Blick. Sie registrierte, wie er ihre Schulter drückte, wenn er sich vorbeugte und das Genuasegel festzurrte. Etwas ging zwischen den beiden vor sich; etwas, das sie nicht mit einschloss. Auf der Kombüsentreppe drehte er sich um und blickte über das Deck hinweg zu Frank, der Smudge aus einem Buch vorlas. Er schien die beiden eine halbe Ewigkeit zu beobachten, wobei sein Blick immer wieder zu den Segeln hinaufschweifte. Clem folgte seinem Blick. Die Segel bauschten sich wie zwei riesige goldene Taschentücher beidseits des Boots, während die Sonne allmählich am pfefferminzfarbenen Himmel versank. Ein weiterer Tag lag hinter ihnen. Wo zum Teufel war Datça? Es fühlte sich an, als befänden sie sich bereits seit Monaten an Bord. Sie bemerkte, wie Johnny den Horizont absuchte, als halte er nach etwas oder jemandem Ausschau, und anschließend das Boot zu überprüfen schien. Sie sah zu, wie er sich über den Bug beugte, den Cockpitsitz
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