Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Haar aussah, als stünde es lichterloh in Flammen. Er hatte sich auf die Knie begeben, um die Taschenlampe möglichst genau auf die Schraube richten zu können. »Brauchst du den Schraubenzieher?«, rief er und beugte sich zu Johnny vor.
Clem fiel auf, dass Johnny ihn nicht beachtete, sondern einen Fuß auf die Fußreling setzte und sich langsam aus dem Wasser schwang. Tropfnass stand er im leuchtend roten Licht und zog sich die Maske vom Gesicht.
»Hast du’s?«, fragte Frank noch einmal.
Immer noch gab Johnny keine Antwort.
»Johnny? Hast du es geschafft?«, wollte Clem wissen und sah zu Frank hinüber. Inzwischen war das Beiboot drei, vier Meter abgetrieben, und Frank packte das schlaffe Tau.
Doch es war nicht nur schlaff, sondern nicht länger mit der Little Utopia verbunden. Mit verwirrter Miene stand Frank da, das nasse, zerfledderte Tauende in der Hand, während das Beiboot immer weiter abtrieb.
»Das Tau hat sich gelöst!«, rief er und warf es Johnny zu. Doch Johnny machte keine Anstalten, es aufzufangen, sondern sah lediglich zu, wie es einen knappen Meter vor ihm platschend im Wasser landete.
»Johnny!«, schrie Clem. »Los, nimm das Tau!« Doch in dem Moment, als die Worte über ihre Lippen kamen, war es zu spät – das Seil war außer seiner Reichweite. Frank holte es wieder ein. Völlig verblüfft starrte sie Johnny an.
»Johnny, spring rein und hol das verdammte Seil!«, brüllte Frank und warf es ein weiteres Mal ins Wasser.
Noch immer rührte Johnny sich nicht, sondern stand wie angewurzelt auf der Fußreling und sah zu, wie das Beiboot immer weiter davontrieb. Clem starrte ihn fassungslos an. In diesem Moment fiel der Groschen. Das hier war kein Zufall. Das Tau war mit Absicht gekappt worden.
»Du musst wenden, Johnny!«, schrie sie, doch er rührte sich nicht vom Fleck. Sie überlegte, wie sie es anstellen könnte, die Little Utopia zu wenden und die wenigen Meter zu Frank zurückzusegeln. Sie bewegte das Ruder, woraufhin sich die Segel prompt von der anderen Seite bauschten. Panisch drehte sie das Ruder in die andere Richtung.
»Wenden, Johnny!«, schrie sie noch einmal, ließ das Ruder los und sah sich nach etwas um, was sie Frank zuwerfen könnte, doch Annie saß noch immer auf dem Cockpitsitz, unter dem die Ersatztaue verstaut waren. Statt beiseitezutreten, sprang sie auf und packte Clem am Arm. Mit einem Mal flackerte ein wildes Feuer in ihren bis vor wenigen Minuten noch leblosen Augen.
»Ich bringe dich verdammt noch mal um, wenn du ihm hilfst, ich schwöre es dir!«, stieß sie hervor.
In diesem Moment erkannte Clem all den Hass, der in ihrem Innern schlummerte, und sah den Irrsinn in ihren fahlen Augen. Die Gewalttätigkeit in ihrem Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihre Drohung, ohne mit der Wimper zucken, wahr machen würde.
Draußen im Beiboot geriet nun auch Frank in Panik. »Wo sind die Ruder? Wo sind die Scheißruder?«, schrie er hektisch.
Clem starrte Johnny an, als ihr dämmerte, was hier los war. Er selbst hatte dafür gesorgt, dass die Ruder nicht an Bord waren. Erst jetzt begriff sie, was eigentlich gespielt wurde.
»Los, Clem, hol den Bootshaken«, brüllte Frank, doch Annie verstärkte ihren Griff. Frank trieb hilflos dort draußen auf dem Wasser. Er brauchte sie, doch sie konnte sich nicht vom Fleck rühren. Annies Finger umklammerten ihren Oberarm wie ein Schraubstock. Sie bemerkte das Blut, das durch den Verband zu sickern begann.
»Wenn du zulässt, dass dieser Mann noch einmal in die Nähe meines Kindes kommt, ramme ich dir dieses Messer in den Bauch, das schwöre ich.«
Clem blickte zu Frank im Beiboot hinaus, das mittlerweile gute zehn Meter abgetrieben war. Franks Stimme wurde merklich leiser. Keiner rührte sich vom Fleck. Sie erkannte, dass er überlegte, ins Wasser zu springen, aber er konnte nicht schwimmen und wäre folglich darauf angewiesen, dass sie ihm half, doch Annie hielt ihren Arm nach wie vor fest. Sie sah zu, wie er auf allen vieren vorwärtskrabbelte und verzweifelt mit den Händen zu paddeln begann, doch es nützte nichts.
»Kommt sofort zurück!«, tobte er. »Wenn du mich hier allein lässt, werde ich dich finden, Johnny, wohin du auch gehst! Ich werde dich finden und in Stücke reißen!«
Starr vor Entsetzen stand Clem da. Sie hatte ihn noch nie die Stimme erheben gehört. Er klang wie ein wild gewordener Bär.
»Du fragst dich, wieso ich dich hier zurücklasse, Frank? Los, sag es!« Johnny beugte sich über die
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