Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
seinem Fischerpulli auf dem Niedergang und sah breit grinsend zu, wie Johnny das Boot auf maximale Geschwindigkeit brachte.
Johnny übernahm das Ruder und wendete das Boot in einem engen Kreis, wobei es sich gefährlich zur Seite neigte. Prompt schrien Annie und Smudge vor Schreck auf und klammerten sich mit aller Kraft an der Reling fest.
Erstaunt stellte Johnny fest, dass sich die Little Utopia als recht wendig entpuppte. »Ziemlich flott für so eine fette Schnecke«, sagte er mit einem Blick auf Frank und zog das Hauptsegel noch ein paar Zentimeter hoch.
Sie fuhren weiter auf die offene See hinaus, und Johnny spürte förmlich, wie der Wind seine Zweifel und Sorgen wegfegte. Genau das war es. Darauf hatte er die ganze Zeit gewartet – den Kick der Geschwindigkeit, angetrieben allein von der Kraft des Windes. Und Johnny war nicht der Einzige, der einen Adrenalinrausch erlebte. Der Anblick der anderen verriet ihm, dass es ihnen ebenfalls so ging. Man konnte sich ihm nicht entziehen. Ausgeschlossen. Clem setzte sich neben ihn, schob ihre Hand hinten in seinen Hosenbund und küsste die Kuhle unter seinem Wangenknochen, die wie geschaffen für ihre Lippen war. Eine Zeit lang schien alles perfekt zu sein, bis ihm bewusst wurde, dass Annie – mit ihren Wahnsinnsbrüsten – auf der anderen Seite saß. Er musste damit aufhören. Er versuchte, sich mit dem Gedanken abzulenken, dass sie steinalt war. Aber das funktionierte nicht. Stattdessen fiel ihm ein, wie er als Junge auf die Kinder der Nachbarin aufgepasst hatte. Als Nächstes versuchte er, sich auszumalen, wie sie mit Frank schlief, doch auch das war vergeblich, denn es weckte lediglich seine Neugier. Er küsste Clem flüchtig auf den Mund und korrigierte das Segel. Maximal noch zwei Tage , dachte er und lehnte sich über die Reling.
Ohne den Schutz der Berge war es wesentlich windiger. Klatschend schlug der Bootsrumpf auf den Wellen auf und sandte einen heftigen Gischtregen über die Reling. Smudge quiekte jedes Mal vor Vergnügen und leckte sich strahlend das Salzwasser vom Gesicht. Sie war ein wildes, tapferes kleines Ding. Rhythmisch pflügte die Little Utopia durch die Fluten.
»O mein Gott!« Verängstigt blickte Annie zu Johnny hoch und hielt Smudge eng an sich gepresst, während er mit zusammengekniffenen Augen das Großsegel im Blick behielt. »Frank!«, schrie er. »Wollen wir ein Reffsegel hissen?«
Frank, der immer noch auf den Stufen stand und aufs Meer hinausblickte, sah zuerst Johnny an, dann die Segel. »Wie du willst«, sagte er.
»Lass uns eins hissen«, sagte Johnny, doch Frank rührte sich nicht vom Fleck.
»Los, mach schon, Frank«, wiederholte Johnny, der dachte, Frank hätte ihn nicht verstanden.
Wieder blickte Frank zuerst zum Segel hinauf, dann sah er Johnny an. »Was ist ein Reffsegel?«, fragte er.
Johnny lachte. Was ist ein Reffsegel?
»Das ist mein Ernst«, sagte Frank achselzuckend. »Was zum Teufel ist ein Reffsegel?«
Johnny sah zu Annie hinüber, die ihn ausdruckslos musterte.
»Du weißt doch wohl, was das ist.« Wieder lachte Johnny und fragte sich, ob Frank ihn auf die Probe stellen wollte oder so etwas. »Hast du etwa noch nie gesegelt?«, fragte er und reichte Clem das Ruder.
Frank schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Ich habe noch nie gesegelt.«
Wieder lachte Johnny, wusste jedoch nicht recht, was er von alldem halten sollte. Vielleicht wollte Frank ihn auf die Probe stellen. Er zog das Reffsegel selbst auf, dann kehrte er ins Cockpit zurück und wendete das Boot, sodass sie nun wieder in Richtung Ufer fuhren. Allmählich dämmerte ihm, dass Frank ihn keineswegs testen wollte. Dass die Segel so nagelneu aussahen, hatte einen ganz einfachen Grund: Sie waren nagelneu. Frank hatte keinen Scherz gemacht. Als er gesagt hatte, sie seien die letzten sechs Jahre im Mittelmeer herumgesegelt, hatte er in Wahrheit gemeint, dass sie gefahren waren. Mit Motorkraft. Er konnte nicht einmal segeln. Eine Hand auf dem Ruder, starrte er Frank völlig entgeistert an. Wie zum Teufel kam ein Mann, der nicht segeln konnte, auf die Idee, mit seiner Familie auf einem Segelboot leben zu wollen? Man musste doch komplett den Verstand verloren haben, um so etwas zu tun. Doch allein die Verrücktheit hinter dieser Idee war beeindruckend.
»Aber wieso hast du dann ausgerechnet ein Segelboot gekauft, Frank? Und kein Motorboot?«, fragte er etwas später, als sie mit einer Flasche Bier in der Hand allein im Cockpit saßen. Frank
Weitere Kostenlose Bücher