Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
zu kümmern, sagte er zu ihnen.« Frank schien das rasend komisch zu finden. »Die Leute haben geweint und geschrien. Für sie war es der Weltuntergang. Was sollten sie jetzt tun, wem sollten sie folgen?«
»Warst du auch da?«
Er drehte sich zu ihr um und lachte noch ein bisschen lauter. »Ich mag alt sein, Clem, aber das Ganze ist 1929 passiert.«
Auch Clem brach in Gelächter aus.
»Aber ich habe die Rede gelesen, die er damals gehalten hat. Sie ist wirklich gut. Die solltest du dir mal ansehen.«
»Das werde ich. Was genau hat er denn gesagt?«
Die Fliege, die sie umkreist hatte, suchte nun Frank heim und spazierte ungeniert auf seiner nackten Haut herum. Bei ihrem Anblick verspürte Clem einen Anflug von Neid auf ihre Unverfrorenheit. Unwirsch schlug er sie weg.
»Er hat ihnen erklärt, die Wahrheit sei ein pfadloses Land. Es gebe keine Pfade, die die Menschen zu ihr führen würden, weder Religionen noch Sekten. Stattdessen sei die Wahrheit grenzenlos und könne weder konditioniert noch organisiert werden. Falls man es doch tue, werde sie zu etwas Totem, Starrem. Diese Organisationen würden das Individuum verkrüppeln und daran hindern, zu wachsen und seine Einzigartigkeit zu leben, die darin liege, ganz allein die uneingeschränkte Wahrheit zu finden.«
Voller Mitgefühl dachte sie an all die weinenden und schreienden Anhänger. Wie um alles in der Welt sollte man seine eigene Wahrheit finden?
»Glaubst du, Jesus dreht sich wegen der Massenbewegung, die er versehentlich ausgelöst hat, im Grabe um?«, fragte sie, in der Hoffnung, damit bei ihm Eindruck zu schinden. »Immerhin war er doch derjenige, der gesagt hat, man solle sich selbst treu sein.«
Wieder drehte Frank sich um und lächelte. »Aber hallo. Wie ein Brummkreisel, Clem.«
Sie saßen in einträchtigem Schweigen da und angelten weiter. Er tippte sich eine Zigarette aus dem Päckchen, zündete sie an und reichte sie ihr. »Es ist schwer, sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein, zu seinen Überzeugungen zu stehen. Manchmal muss man dafür gegen die allgemein gültigen Regeln verstoßen.«
Sie stützte sich mit dem Kinn auf der Reling ab und streifte dabei die Wunde, die sie sich auf den Felsen zugezogen hatte. Sie schob die Hände unter die Oberschenkel und fragte sich, gegen welche allgemein gültigen Regeln er verstoßen haben mochte.
»Regierungen und Religionen müssen uns kontrollieren. Und ich weiß, wovon ich rede, glaub mir«, sagte er mit seiner typischen Samtstimme. »Deshalb richten wir uns nach ihren Regeln.« Er zündete eine zweite Zigarette an, wandte sich ihr zu und blies den Rauch in die Luft. »Aber wer profitiert deiner Meinung nach in Wahrheit von all diesen Regeln?«
»Wir alle, schätze ich«, gab sie trotzig zurück, als Versuch, gegen seine Regeln zu verstoßen.
»Kann sein«, sagte er und stützte sich auf seiner Hand ab, doch sein Tonfall verriet, dass er ihre Meinung nicht teilte. »Wieso verstößt es gegen das Gesetz, den Mann zu töten, der in dein Haus einbricht und deine Frau vergewaltigt? Und wieso ist es jedoch absolut in Ordnung, einen Wildfremden in einem Krieg wegen Ölreserven abzuknallen, der einen in Wahrheit überhaupt nicht betrifft?«
Sie hoffte nur, dass er keine Antwort von ihr erwartete. Johnny war besser darin, kluge Antworten auf derartige Fragen zu geben. Seine Meinung beruhte stets auf einer präzisen Logik.
»Für die Gesellschaft ist es wichtig, dass wir gewisse Denkmuster verfolgen, damit sie funktionieren und uns für ihre Zwecke vor den Karren spannen kann. Sie muss uns sagen, auf wen wir mit dem Finger zeigen sollen, wer die ›Opfer‹ und wer die ›Täter‹ sind.« Er sah ihr direkt in die Augen. Es fühlte sich an, als könnte er geradewegs in sie hineinblicken. »Du musst deinen eigenen Kompass ausrichten, Clem. Vergiss das nie.«
Seine Augen waren so dunkel, sein Blick so eindringlich, dass sie im ersten Moment nicht merkte, wie etwas heftig an ihrer Angelschnur zog.
Bereits auf dem Rückweg hörte Johnny Franks leise Stimme übers Meer wehen. Er wünschte, er wäre nie von Bord gegangen, hätte niemals Beeren gepflückt und schon gar nicht Annies Brüste berührt. Beladen mit neuer Schuld, kehrte er an Bord zurück. Vor wenigen Stunden hätte er geschworen, dass Clem ihn betrügen würde, doch nun hatte sich das Blatt gewendet, und er war ihr zuvorgekommen. Er spürte, wie die Lust und die Selbstverachtung in ihm widerstritten, hasste sich dafür, seinem Schwanz
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