Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
seinen fünf Passagieren darauf und auf die Regeln ihres Zusammenlebens, die ihn immer wieder aufs Neue überraschten.
Annie kam als Erste wieder an Deck, gähnend und mit Kissenfalten auf der Wange. Sie trug Franks Hemd, jedoch offensichtlich keine Shorts darunter. Johnny tat so, als würde er es nicht bemerken, obwohl er sich ihrer Gegenwart überdeutlich bewusst war. Da Clem auf dem Bug lag und döste, waren sie ganz allein im Cockpit. Sie reichte ihm eine Tasse Tee, und Johnny stellte fest, dass sie nun diejenige war, die jeden Blickkontakt mied. Sie wirkte fahrig und unglücklich. Vielleicht hatte ja auch sie ein schlechtes Gewissen. Er sah ihr zu, wie sie in der Kombüse herumwerkelte. Sie legte Musik auf, Aretha Franklin, begann zu kochen, las ein Rezept. Die Brise war abgeflaut. Johnny griff nach dem Sextanten und fummelte daran herum. Gerade als er die Linse und die Spiegel gesäubert hatte, kam Annie mit einer Tüte voll Kartoffeln nach oben. Sie löste den Eimer vom Haken, füllte ihn mit Meerwasser, den Blick fest auf den Horizont gerichtet, kippte die Kartoffeln in den Eimer und fing an, sie zu schälen.
»So weit waren wir noch nie vom Ufer entfernt«, sagte sie.
Johnny ließ den Sextanten sinken und sah sie an. »Ernsthaft?«
Sie nickte und blickte ihn aus ihren hellen Augen an – das erste Mal, seit er sie unter dem Olivenbaum berührt hatte –, dann sah sie verstohlen zum Vorschiff. Johnny, der dachte, sie wolle etwas zu dem morgendlichen Zwischenfall sagen, flüchtete sich eilig in die Betrachtung des Horizonts.
»Er kann noch nicht mal schwimmen!«, sagte sie. In ihrem Tonfall schwang ein Anflug von Hohn, von Verachtung mit.
Johnny ließ den Sextanten sinken. »Er kann weder schwimmen noch segeln?«, hakte er nach, obwohl er sich gemein vorkam, hinter Franks Rücken über ihn zu lästern. »Seid ihr beide Masochisten? Wieso zum Teufel habt ihr euch kein Haus, sondern ein Boot gekauft?«
Sie schrubbte beherzt eine Kartoffel. »Auf einem Boot kann einen schließlich keiner finden, oder?«, erwiderte sie, warf einen weiteren Blick unter Deck, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und erhob sich eilig, als hätte sie schon viel zu viel verraten.
Wenig später trat Frank in Shorts aus dem Vorschiff. Johnny sah zu, wie er in der Kombüse herumhantierte. Er betrachtete seine breiten Schultern, die Vertiefungen auf seinem Rücken, das gebrochene Schulterblatt. Clem hatte erzählt, er sei von einem Laster überfahren worden, doch es sah eher aus, als wäre er in einen Mähdrescher geraten.
Inzwischen war es Abend. Die benebelnde Wirkung des Alkohols hatte ihren Teil dazu beigetragen, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Sie waren in eine weitere einsame Bucht eingelaufen, hatten zu Abend gegessen, während sich der Himmel rosa verfärbt und die Erde der Sonne den Rücken zugekehrt hatte. Die Mädchen waren nach unten gegangen, um Smudge eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, und tanzten inzwischen zu Hippiemusik in der Kajüte herum. Frank und Johnny saßen mit einer Flasche Rotwein im Cockpit, wo sich der Himmel von seiner spektakulärsten Seite zeigte. Etwas ganz Großes spielte sich dort oben ab. Wohin man auch sah, eine Sternschnuppe nach der anderen flitzte durch die Dunkelheit, ein Schauspiel, das bereits seit Stunden andauerte.
Frank lag auf dem Achterdecksitz, ließ die Beine übers Ruder baumeln und fragte Johnny nach seinen Segelerfahrungen aus, während er den Nachthimmel beobachtete. Johnny erzählte ihm vom einzigen Mal, als er in einen heftigen Sturm geraten war. Sie waren mitten im Golf von Biskaya gewesen, bei einem Wind, der ihnen anfangs noch mit steten sechzig, später jedoch mit achtzig Stundenkilometern entgegengepeitscht war. Er und Rob hatten bei Windstärke zehn eine hölzerne 10-Meter-Segeljolle über die See gesteuert. Das Meer rings um sie herum war weiß gewesen und die Gischt in gewaltigen Zickzacklinien über die Wasseroberfläche gefegt. Sie hatten sämtliche Segel vertäut und sich an die Masten gebunden, in der Hoffnung, dass alles gut gehen würde. Er erinnerte sich noch ganz genau an diese geradezu aberwitzig hohe Woge, die sich über ihm aufgetürmt und gebrochen hatte. Er hatte kaum mehr als einen taschentuchgroßen Streifen Himmel über sich erkennen können, während der Rest nichts als eine gewaltige Wasserwand war, die über ihnen niederging.
»Großer Gott«, sagte Frank und wandte sich Johnny zu. »Und was hast du in diesem Moment gedacht?«
»Ich
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