Die Stimmen des Flusses
Mahnmal. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Oder hatte sie ihn unbewußt wahrgenommen, wie es vielen Fotografen ergeht, die zwar intuitiv alles erfassen, was sich im Bildausschnitt abspielt, aber beim Entwickeln der Fotos doch immer wieder überrascht sind?
Im schwülroten Licht begannen sich auf dem weißen Papier seltsame Formen abzuzeichnen, zunächst blaß, dannimmer kräftiger. Sie schob das Papier mit einer Pinzette in der Flüssigkeit hin und her, und nach und nach wurde das Bild deutlicher. Sehr gut getroffen, war ihr erster Gedanke. Sie zog das Papier aus der Wanne, fixierte es und hängte es auf die Leine, neben die zwanzig anderen Aufnahmen der Filmrolle Nr. 3 vom 5. Dezember 2001, Friedhof von Torena. Ja, sehr gut getroffen.
Beim näheren Betrachten ihrer fotografischen Ausbeute fand sich zunächst nichts Überraschendes. Doch dann bemerkte sie den Grünfinken, der zum Flug ansetzte, festgebannt auf dem letzten Bild mit dem verfallenen Mahnmal. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Er verlieh dem Bild etwas Poetisches, fand sie. Sie betrachtete den Vogel unter der Lupe. Ja, ein Grünfink, die Flügel gesenkt im mühevollen Abheben. Hatte er einen Wurm im Schnabel, oder war das ein Fussel auf dem Abzug? Nein: Es war eine Zeichnung auf dem Grab im Hintergrund des Fotos, vor dem der Vogel vorbeiflog, eine optische Täuschung. Zum ersten Mal beachtete sie den Grabstein. Die Belichtungszeit war so kurz gewesen, daß sowohl der Grünfink als auch der Grabstein klar und deutlich zu erkennen waren. Auf dem Grabstein stand: José Oriol Fontelles Grau (1915-1944) – Er starb den Heldentod für Gott und Vaterland. Darunter das Joch und das faschistische Pfeilbündel. Eine der Pfeilspitzen sah aus wie ein kleiner Wurm, den der Grünfink in sein Nest trug.
Tina legte die Lupe beiseite und rieb sich die Augen. Dieses Foto, das letzte auf der Filmrolle, würde sich gut am Anfang des Buches machen, in Schwarzweiß, als Symbol der Vergänglichkeit oder etwas in der Art.
Ihre behandschuhte Hand lag noch immer auf der Zigarrenkiste, die Oriol Fontelles’ Hefte enthielt, und einen Augenblick lang ließ der Gedanke an ihren Inhalt sie vergessen, warum sie vor der erleuchteten Eingangstür der Pension von Ainet Wache hielt, während der Schnee wieder die Windschutzscheibe bedeckte. Die Schneeflocken erschienen ihrwie Sterne, die vom Himmel fielen, weil sie es müde waren, nutzlos dort oben zu hängen, weil sie enttäuscht waren von der Vorstellung, daß ihr Licht Jahrhunderte brauchte, um die Augen geliebter Menschen zu erreichen. Warum läßt Arnau sich nicht lieben? Immer ist er so schweigsam und verschlossen, mir scheint, er will die Sterne gar nicht sehen, genau wie Jordi. Meine Männer wollen die Sterne nicht sehen. Als sie gerade aussteigen wollte, um wieder einmal die Windschutzscheibe freizuwischen, sah sie, wie sich am Eingang der Pension etwas regte. Jemand kam heraus. Jordi. Ihr Jordi verließ die Pension von Ainet, weit weg von zu Hause, und spähte nach allen Seiten, während er sich die Mütze aufsetzte. Er bemerkte den roten Citroën nicht, der an der dunklen Landstraße parkte, wandte sich um und streckte den Arm durch die Tür. Diese Geste weckte ihre Eifersucht viel mehr als die Frau, die nun heraustrat. Sie war fast ebenso groß wie Jordi und so in ihren Anorak eingemummt, daß man sie nicht erkennen konnte. Es war eine Geste, mit der Jordi nicht nur die Frau willkommen hieß, sondern vielmehr das Dasein dieser Frau, es war ein Willkommensgruß und zugleich eine Ohrfeige für sie, die in der Kälte im Auto saß, nur um ihre Befürchtungen bestätigt zu sehen.
Jetzt reagierte sie. Sie griff zur Kamera, stützte sich auf das Lenkrad, um während der langen Belichtungszeit eine ruhige Hand zu haben, und drückte ab. Zwei, drei Fotos. Vier, fünf. Und jetzt mit dem Teleobjektiv: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … Sie ließ die Kamera sinken und fühlte sich wie eine gewöhnliche Paparazza.
2
Seine Exzellenz Don Nazario Prats, Zivilgouverneur und Provinzchef des Movimiento, war kahl, schnauzbärtig, verschwitzt und nervös. Wer war nicht nervös, wenn er Senyora Elisenda gegenüberstand? Allein ihre persönliche Duftnote versetzte ihn in Alarmbereitschaft, erinnerte sie ihn doch daran, wie Senyora Elisenda ihm während der Beerdigung ihres Mannes Santiago mit samtweicher Stimme Befehle zugeraunt hatte, als wüßte sie nicht, daß er Zivilgouverneur war, und wie sie ihn erpreßt hatte, als wäre ihr
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