Die Straße in die Stadt
fünf Lire in der Tasche zu haben, und schon fühle ich mich fröhlicher. Aber wenn einer Geld will, muß er stehlen oder es sich verdienen. Das haben sie uns zu Hause nie richtig erklärt. Sie beklagen sich immer über uns, aber nur so, zum Zeitvertreib. Niemand hat je zu uns gesagt: Geh und schweig. Das wäre nötig gewesen.«
»Wenn sie zu mir gesagt hätten: Geh und schweig, hätte ich sie mit Fußtritten zur Tür hinausgeworfen«, sagte Giovanni.
Auf der Straße begegneten wir dem Sohn des Doktors, der mit seinem Hund von der Jagd zurückkehrte. Er hatte sieben oder acht Wachteln erlegt und wollte mir zwei davon schenken. Er war ein untersetzter junger Mann mit großem schwarzen Schnauzbart und studierte Medizin an der Universität. Er und Nini fingen an zu diskutieren, und Giovanni sagte später zu mir:
»Den Sohn des Doktors steckt der Nini mühelos in die Tasche. Der Nini ist nicht irgendeiner, auch wenn er nicht studiert hat.«
Aber ich war hoch erfreut, daß Giulio mir die Wachteln geschenkt und mich angesehen und gesagt hatte, eines Tages müßten wir zusammen in die Stadt gehen.
Jetzt war der Sommer gekommen, und ich begann, über alle meine Kleider nachzudenken, um mir neue zu machen. Ich sagte zu meiner Mutter, daß ich hellblauen Stoff brauchte, und meine Mutter fragte mich, ob ich glaubte, sie besitze einen Goldesel, aber daraufhin erwiderte ich, daß ich auch ein Paar Schuhe mit Korksohlen bräuchte und nicht ohne sie auskommen könnte, und sagte zu ihr: »Verflucht sei die Mutter, die dich geboren hat.« Ich bekam eine Ohrfeige und weinte einen ganzen Tag lang, eingeschlossen in meinem Zimmer. Um das Geld bat ich Azalea, die mich dafür in die Via Genova Nummer zwanzig schickte, um zu fragen, ob Alberto zu Hause sei. Als ich erfahren hatte, daß er nicht zu Hause war, kehrte ich zurück, um ihr die Antwort zu überbringen, und erhielt das Geld. Einige Tage blieb ich in meinem Zimmer, um das Kleid zu nähen, und erinnerte mich fast gar nicht mehr, wie die Stadt aussah. Als das Kleid fertig war, zog ich es an und ging spazieren, und der Sohn des Doktors gesellte sich sofort zu mir, kaufte Gebäck, und wir gingen zusammen in die Pineta, um es zu essen. Er fragte mich, was ich die ganze Zeit eingeschlossen zu Hause gemacht hätte. Aber ich antwortete ihm, ich könne es nicht leiden, daß sich die Leute in meine Angelegenheiten einmischten. Daraufhin bat er mich, nicht so böse zu sein. Dann wollte er mich küssen, und ich lief davon.
Den ganzen Vormittag lag ich zu Hause auf dem Balkon, damit die Sonne mir die Beine bräunte. Ich hatte die Schuhe mit Korkabsatz und das Kleid und auch eine geflochtene Strohtasche, die Azalea mir geschenkt hatte, damit ich einen Brief in die Via Genova Nummer zwanzig bringe. Und mein Gesicht, meine Beine und Arme hatten eine schöne braune Färbung angenommen. Jemand kam und erzählte meiner Mutter, daß Giulio, der Sohn des Doktors, in mich verliebt sei und seine Mutter ihm deshalb lange Szenen mache. Meine Mutter wurde schlagartig ganz fröhlich und freundlich und brachte mir jeden Morgen ein verquirltes Eigelb, weil sie sagte, ich komme ihr ein bißchen sonderbar vor. Die Frau des Doktors stand mit dem Dienstmädchen am Fenster, und wenn sie mich vorbeigehen sah, schlug sie es zu, als hätte sie eine Schlange gesehen. Giulio verzog das Gesicht zu einem halben Lächeln und ging weiter neben mir her und redete. Ich hörte nicht auf das, was er sagte, sondern dachte, daß dieser dicke junge Mann mit schwarzem Schnauzbart und hohen Stiefeln, der mit einem Pfiff seinen Hund rief, bald mein Verlobter sein würde und viele Mädchen aus dem Dorf vor Wut darüber heulen würden.
-
G
iovanni kam zu mir und sagte: »Azalea will dich sehen.« Schon sehr lange war ich nicht mehr in der Stadt gewesen. In meinem hellblauen Kleid, mit den Schuhen, der Tasche und Sonnenbrille ging ich hin. Bei Azalea in der Wohnung war alles in Unordnung, die Betten waren noch nicht gemacht, und Ottavia, an deren Rock sich die Kinder klammerten, lehnte an der Wand und schluchzte.
»Er hat sie verlassen«, sagte sie zu mir, »er heiratet.«
Azalea saß im Unterrock auf dem Bett, mit weitgeöffneten, glänzenden Augen. Sie hatte ein Bündel Briefe im Schoß.
»Er heiratet im September«, sagte sie zu mir.
»Jetzt muß alles versteckt werden, bevor der gnädige Herr heimkommt«, sagte Ottavia, indem sie die Briefe einsammelte.
»Nein, verbrennen muß man sie«, sagte Azalea,
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