Die Stumme - La Muette
viel. Die Stumme war auch schön, sie hatte große strahlende Augen und ein ansprechendes Gesicht. Ich bin weder schön noch hässlich. Obwohl, jetzt, in dieser Zelle, bin ich es wohl doch. Die ersten drei Tage meines Verhörs waren die längsten überhaupt, zweiundsiebzig Stunden ohne Schlaf und ständig Hiebe mit dem Schlagstock. Ich habe unsäglich schwere Verbrennungen, mehrere kaputte Zähne, mein Gesicht
ist geschwollen, die Rippen sind gebrochen, und wenn ich atme, tut mir der ganze Körper weh. Erst jetzt wird mir allmählich klar, dass ich bald hingerichtet werde. Tag und Nacht in dieser engen, leeren Zelle auf den Tod warten zu müssen, geht über meine Kräfte. Ich denke an die Stumme, stelle mir vor, sie wäre an meiner Seite, sie würde mir helfen, nicht verrückt zu werden, die Schmerzen und die Angst zu ertragen. Ich schreibe, damit sich jemand an mich und die Stumme erinnert, denn ich habe Angst, einfach so zu sterben, ohne etwas zu hinterlassen. Vielleicht liest eines Tages jemand dieses Heft. Vielleicht wird mich eines Tages jemand verstehen. Ich suche keine Bestätigung, nur Verständnis.
D em Wärter graut es sicher vor meinem Gesicht, aber auch vor meinem Stöhnen. Manchmal ist der Schmerz unerträglich. Heute hat er mir ein kleines Papiertaschentuch zugesteckt. Zuerst dachte ich, damit ich mir die Nase putzen kann. Das fand ich sehr aufmerksam und habe mich bedankt. Aber dann stellte ich fest, dass es nur ein halbes Taschentuch war, zerknittert, leicht schwarz. Und darin eingewickelt ein winziges Stück Opium. Der Wärter sieht nicht aus wie einer von hier, wenn er so etwas wagt, kommt er sicher aus einer großen Stadt. Ich fühle mich ganz eigenartig, solche Empfindungen hatte ich noch nie zuvor.
Als ich verhört wurde, habe ich kein Wort gesagt. Ich habe die Schläge ertragen, ohne zu schreien, und so getan, als wäre auch ich stumm. In diesen drei Tagen habe ich das hartnäckige Schweigen begriffen, in das sich meine Tante geflüchtet hatte. Die Absolutheit, mit der sie sich in dieses Schweigen eingemauert
hatte, flößte den anderen manchmal Angst ein, forderte ihnen aber auch Respekt ab. Schweigen heißt vielleicht, die Wahrheit nicht zu verraten. Am Ende nannten wir sie die Stumme. War sie es wirklich? Das wusste niemand so genau, sie war nicht immer stumm gewesen. Bis zu ihrem zehnten Geburtstag hatte sie gesprochen. Später hatte sie es wie keine andere verstanden ihr Schweigen beredt zu machen. Freude, Traurigkeit, Hass, Liebe, Zärtlichkeit, Wut, Empörung, Hoffnung und Verzweiflung waren in ihren Blicken zu lesen, in jedem ihrer Züge, in ihrer Art, aufzustehen und zu gehen oder auch sitzen zu bleiben, darin, wie sie zuhörte und einen mit ihrem Blick streichelte. Was sie ohne Worte sagte, konnte selbst der dümmste Analphabet aus ihrem Gesicht ablesen.
Sie fehlt mir. Zwar ist sie verstummt, aber ihr Herz hat sich nie verschlossen. Sie hat sich für das Schweigen entschieden. An dem Punkt, an dem ich nun angelangt bin, habe ich das Bedürfnis, ja die Pflicht, ihre Geschichte zu erzählen.
T aub war sie nicht. Sie hörte, verstand alles, was man ihr sagte. Sie war auch nicht verrückt, selbst wenn ihr Benehmen häufig seltsam war. Sie war nicht apathisch, auch wenn sie es endgültig aufgegeben hatte zu sprechen. Trotz ihres Stummseins, verstand sie es die seltenen Momente von Zärtlichkeit im Leben wahrzunehmen und aufmerksam, wachsam, präsent zu sein. Am ersten Tag meines Verhörs bekam ich meine Regel, früher als üblich - sicher weil ich unter Schock stand und wegen all der Gewalt, die ich erfuhr. Als einer meiner Folterer es bemerkte, schrie er: »Diese Nutte pinkelt Blut! Ich werde dir zeigen, was es heißt, Blut zu pinkeln!«, und schlug mich windelweich. Ich fürchtete, er würde mir mit seinen Tritten den Bauch aufreißen, als hätte ich ihn mit meiner Blutung provoziert. Ich hatte schon immer geahnt, dass mir die Regel nur Ärger einbringen würde. Damals war ich knapp zwölf Jahre alt und kam gerade aus der Schule. Auf dem Nachhauseweg spürte ich, mitten auf der
Straße, ein unangenehmes Gefühl, eine Art Ziehen im Unterleib. Meine Unterhose war feucht und die Innenseite meiner Schenkel klebrig. Ich ging schneller, und als ich zu Hause ankam, stürzte ich auf die Toilette. Blut rann an meinen Schenkeln hinab. Ich hatte schon davon gehört, dass Frauen regelmäßig bluten, aber unter Klassenkameradinnen darüber zu reden war etwas ganz anderes, als es zu erleben.
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