Die Stumme - La Muette
gewesen. Am liebsten hätte ich meine Tochter in die Arme genommen, aber stattdessen schnappte ich mir ein Kopfkissen und presste es ihr aufs Gesicht. Sie war vier Monate alt und hieß Zynabe; ich mochte ihren Vornamen nicht, der Mullah hatte ihn ausgesucht. Ich wollte mich umbringen, aber es war mir unmöglich, mir die Adern mit dem Messer aufzuschneiden, das vom Blut des Mullahs besudelt war. Ich glaube auch, dass es mir an Kraft und Wut dazu fehlte. Ich erwog, nach Teheran zu fliehen; dort würde mich niemand
kennen. Ich nahm den Büroschlüssel aus der Tasche des Mullahs. Ich wusste, dass er Geld in der Kommode versteckt hatte, wo auch der Hausschlüssel lag. In Zahras Zimmer brannte kein Licht. Einige Minuten blieb ich mit dem Schlüssel in der Hand stehen. Wartete, bis ich sicher war, dass sie schlief, aber in Wirklichkeit wusste ich bereits, dass ich nicht aus diesem Zimmer käme. Ich hätte kein anderes Leben beginnen können, nachdem ich mein eigenes Kind umgebracht hatte, selbst wenn es das des Mullahs war. Es gab zu viele Leichen in meinem Leben. Ich nahm den Leichnam meines Babys in die Arme. Ich erinnerte mich an die Fortsetzung des Sprichworts: »Jeden trifft das Los, das ihm gebührt, so ist das Leben.« Ich hatte von einer strahlenden Zukunft geträumt, glaubte, mir sei ein anderes Los beschieden. Ich wollte Ärztin werden und bin nun zur Mörderin geworden.
Ich dachte an die Stumme. Und mir wurde klar, dass der Schmerz und die Einsamkeit meiner Tante mit ihrem Tod nicht einfach verschwunden waren, sondern sie hatten sich meiner bemächtigt. Die Stumme und ich standen unter demselben schlechten Stern. Seit ihrem Tod trage ich ihn in mir.
Anmerkung der Journalistin
Der Fernsehsender, für den ich arbeite, hatte mich in den Iran geschickt, um eine Reportage über die Seidenstraße zu machen. Ich wurde von dem Kameramann und dem Tontechniker begleitet, mit denen ich immer zusammenarbeite. Alle nötigen Vorkehrungen waren vor unserer Abreise getroffen worden, so dass wir am Tag nach unserer Ankunft drehbereit waren. Wir hatten einen Geländewagen gemietet, einen Fahrer gefunden, und natürlich hatte uns die iranische Regierung einen Reiseleiter zur Seite gestellt, der gut Französisch sprach. Er war liebenswürdig, aber wachsam und ließ uns nur selten aus den Augen. Am Morgen hatten wir Qom, die »heilige Stadt«, verlassen. Wir fuhren gerade die Straße von Kachan - »einer der ältesten Städte des Iran« - entlang, als wir auf eine Straßensperre stießen. Bauarbeiten. Wir mussten einer Umleitung folgen, einer Schotterpiste, die im
üblen Zustand war. Wir kamen an mehreren Feldwegen ohne irgendein Hinweisschild vorbei. Der Fahrer schien sich des Weges nicht mehr ganz sicher zu sein. Der Reiseleiter und er diskutierten auf Persisch, doch es gelang ihnen offensichtlich nicht, sich zu einigen.
Der Wagen hielt hinter einem Moped, das im Nirgendwo abgestellt war. Der Fahrer und der Reiseleiter stiegen aus; ich auch, um mir die Beine zu vertreten. Das Moped wollte gerade wieder starten, als der Reiseleiter den Mopedbesitzer herbeirief. Er kam auf uns zu und begann zu gestikulieren, während er unserem Fahrer den Weg erklärte. Ich war fasziniert von seinen Augen, die wundervoll honigfarben waren. Er warf mir eindringliche Blicke zu. Als mein Name fiel, lächelte ich. Unser Reiseleiter verzog sich, um seine Notdurft zu verrichten und der Fahrer kehrte zurück in den Wagen. Da stürzte der junge Mann auf mich zu und fragte auf Englisch: »Journalist?« Ohne eine Antwort abzuwarten, holte er daraufhin ein Heft aus seiner Jacke und legte es mir in die Hände, wobei er aufgeregt hinzufügte: »Take it, take it!« Aus der Nähe betrachtet leuchteten seine Augen wie zwei goldene Kugeln unter den kohleschwarzen Wimpern. Trotz meiner Überraschung reagierte ich schnell und versteckte,
bevor der Reiseleiter zurückkam, das Heft unter meinem Mantel. Daraufhin entfernte er sich. Der Reiseleiter kam zurück, wir stiegen ins Auto, machten kehrt und fuhren langsam den Feldweg entlang. Der junge Mann winkte. Ich drehte mich um und warf ihm einen letzten Blick zu. Er stand noch immer neben seinem Moped. Dann verschwand das Bild hinter der Staubwolke, die der Wagen aufwirbelte.
Ein persisches Sprichwort sagt: Um den Tod der armen Leute und das Verbrechen der Reichen macht niemand viel Aufhebens. Ich hoffe, die Geschichte der Stummen und ihrer Nichte wird das Sprichwort Lügen strafen.
Während meines Aufenthaltes im
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