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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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du sollst nicht mehr kommen und die Vergangenheit ruhen lassen?«
    Erst jetzt fiel sein Blick auf die Pelzjacke, die Bérénice noch immer an sich presste. Aber auf seinem Gesicht zeigte sich kaum eine Regung. Mit einer müden Bewegung strich er mit der knochigen Hand über sein schütteres Haar.
    »Ich habe dich damals in der Nacht gesehen«, brachte Bérénice flüsternd heraus.
    Etienne antwortete nicht. Er sah sie an, und Bérénice drehte das Gesicht zur Seite, da sie den Blick seiner wässrigen, kalten Augen nicht ertragen konnte.
    »Ich dachte, du bist erst heruntergekommen, als Denise nach Hause kam.«
    »Du hast Fleur getötet. Und vorher hast du Fleur …« Sie musste es wissen, sie wollte jede Einzelheit seiner grausamen Tat erfahren, aus seinem Mund hören, was er ihrer Mutter angetan hatte.
    Sie sahen sich an, schweigend, eingeschlossen in die Stille des großen Raums. Unwillkürlich wich Bérénice zurück, ging rückwärts ein paar Schritte Richtung Eingangstür.
    »Fleur kam, um mir mein Kind zu nehmen. In diesem Moment zerstörte sie mein Leben. Ich musste sie dafür bestrafen.«
    Bérénice sah ihn voller Grauen an, diesen zierlichen Mann, höflich und in der ganzen Stadt hoch geachtet. Doch er war ein Mörder. Und auch ein Vergewaltiger?
    »Willst du zur Polizei gehen?«, fragte Etienne fast gleichgültig.
    »Ich will nur die Wahrheit.« Bérénice’ Stimme klang fest, als sie ihn ansah. »Ich möchte von dir hören, dass du sie umgebracht hast und ich es nicht nur geträumt habe.«
    Ein unfrohes Lächeln umspielte Etiennes dünne Lippen. »Soll ich dir sagen, du hast es geträumt? Bist du dann beruhigt? Aber ich sage dir: Ich habe sie getötet. Und das ist die Wahrheit«, fügte er hinzu, als Bérénice ihn nur in stummem Entsetzen ansah. »Ich habe die Frau getötet, die ich liebte. Und vorher gehörte sie mir, ein einziges Mal gehörte sie mir.«
    Ein Zittern lief durch Bérénice’ Körper, und sie glaubte, jedes Haar auf ihren Armen einzeln zu spüren.
    »Ich war überrascht, dass es so leicht gegangen ist und dass nie ein Verdacht gegen mich geäußert wurde.« Noch immer klang seine Stimme ruhig und emotionslos.
    »Wieso hat sich niemand in der Stadt nach Fleur erkundigt? Wieso hat sie niemand vermisst?«
    »Wer sollte Fleur vermissen?«, antwortete Etienne, und Hohn klang in seiner Stimme mit. »Sie hatte keine Freunde hier. An diesem Abend gab es eine Theateraufführung in der Aula des Gymnasiums, irgendein Gastspiel. Die halbe Stadt war dort, auch Denise. Und in der Kneipe drüben lief ein Fußballspiel im Fernsehen. Die Tür stand offen, und die Stimme des Reporters schallte über den ganzen Platz. Niemand hat Fleur kommen sehen. Und wer sollte sie vermissen? Sie lebte nicht mehr in Saint-Emile.«
    »Und Denise?«
    »Sie wollte nicht, dass der Betrug um deine Geburt aufflog. Sie wusste, dass sie dich verloren hätte. So einigten wir uns auf die Version, ihre Schwester sei hier gewesen und habe sich nach einem Familienstreit entschlossen, Frankreich zu verlassen – so wie schon ihr Vater. Jeder in der Stadt kannte diese Geschichte. Doch es hat nie jemand nachgefragt.«
    Etiennes Erklärung klang so banal. Furchtbar banal. Er beging einen Mord, und seine Frau hatte geschwiegen.
    »Nun«, Bérénice fand kaum den Mut, die wichtigste Frage zu stellen: »Wo … ich meine … wo …«
    Etienne verstand sofort. »Oben, in die Spalte des Felsplateaus. Ich brachte Fleur noch in der Nacht dorthin und warf sie hinunter.«
    Bérénice spürte einen Schmerz durch ihren ganzen Körper jagen, ein Frösteln überzog ihre Haut.
    »Ich wusste, dass die Absperrung an einigen Stellen defekt war«, fuhr Etienne fort, »das war schon lange ein Thema im Gemeinderat. Ich kannte die Stellen, da kurz zuvor eine Besichtigung stattgefunden hatte.«
    »So bist du ohne Strafe davongekommen.«
    Etiennes Stimme verriet keine Irritation, als er antwortete: »Vielleicht ist es dir eine Genugtuung, dass die Hölle, die ich in mir trage, schlimmer ist als jede Strafe der Justiz. Ich lebe im Gefängnis meiner Erinnerung, meiner Reue, meiner Qual. Kein Gefängnis kann schrecklicher sein.«
    »Warum hast du dich nie gestellt?«, flüsterte Bérénice.
    »Das sagte ich dir doch gerade. Mein Gefängnis ist in mir, das war die Strafe, die ich mir selbst auferlegt habe. Ich könnte jetzt auch behaupten, ich habe mich nicht gestellt, um dich zu schützen, dich, das kleine Mädchen, dem ich letztendlich nur Gutes wünschte,

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