Die Stunde der Schwestern
ihnen in die Dunkelheit hinaustappte. Sie stiegen in den Wagen, und Hippolyte fuhr langsam los.
»Wir fahren direkt hinauf, nicht an den Lavendelfeldern vorbei.« Hippolyte warf Bérénice einen besorgten Blick zu. »Wie fühlst du dich? Sollen wir wirklich hochfahren?«
»Es geht mir gut«, antwortete sie kurz, »und ich muss jetzt hinauf.«
Hippolyte wusste, dass sie log und dass sie Angst hatte, da oben zu stehen, an dem Ort, an dem Etienne Aubry in einer Nacht vor siebenunddreißig Jahren ihre tote Mutter in die Schlucht warf.
Sie schwiegen, bis sie die letzten Lärchen und Lorbeersträucher passierten und nur noch über Geröll fuhren. Hippolyte steuerte den Pick-up vorsichtig über das felsige Plateau.
»Da vorne ist die Absperrung«, erklärte er. »Wir müssen warten, bis die Sonne aufgeht.«
Als sie ausstiegen, umfing sie Kälte. Ein starker Wind heulte über das Felsplateau und zerrte an ihren Haaren. Hippolyte legte den Arm um Bérénice’ Schultern, da sie fror und zitterte. Auch als sie von dem heißen Kaffee aus der Thermoskanne trank, den ihr Hippolyte reichte, wurde ihr nicht warm.
Sie blieben stumm, bis die Dämmerung am Horizont einem leichten Gelb wich. Dann gingen sie bis zur Absperrung und blieben stehen. Die tiefe Spalte im Boden, die enge Schlucht, konnten sie kaum erkennen. Nichts als flache Felsen, von der aufgehenden Sonne in tiefrotes Licht getaucht.
Vor der Absperrung stand ein hohes eisernes Kreuz. In Vasen, die am dicken Drahtzaun befestigt waren, steckten Frühlingsblumen.
»Es ist zum Wallfahrtsort geworden«, erzählte Hippolyte. »Aus den umliegenden Dörfern kommen Leute herauf, beten für die Abgestürzten, die seit Jahren dort unten liegen, und bringen ihnen Blumen. Manche Frauen im Dorf nennen es auch einen heiligen, einen magischen Ort.«
Der Gedanke an die Menschen, die heraufkamen, den Toten Blumen brachten und für sie beteten, gab Bérénice Trost und erfüllte sie mit einem tiefen Frieden. Sie lauschte auf den Wind und sah im Morgenlicht den Rand der Schlucht. Sie nahm Abschied von ihrer Mutter.
Sie nahm auch Abschied von ihrer Kindheit, die auf einer schrecklichen Lüge aufgebaut war.
Als sie sich umwandte und über die Felsen hinunter auf die Lavendelfelder blickte, spürte sie eine neue Kraft in sich, die ihr den Mut gab, die richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, jetzt, da sie endlich die Wahrheit kannte.
Der Wind heulte über die Felsen, so dass sie laut rufen musste, damit Hippolyte sie verstand: »Wenn du willst, bleibe ich hier, bei dir, jetzt.«
Er sah die Unsicherheit auf ihrem Gesicht, die Angst, er könne ablehnen. Da lächelte er, lief auf sie zu und umschloss sie mit seinen Armen. Vielleicht zog es Bérénice irgendwann wieder nach Paris, doch dieses Jetzt war Verheißung für die Gegenwart und ein Vielleicht für die Zukunft, und das war mehr, als sie beide sich erhofft hatten.
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Über Katja Maybach
Katja Maybach lebte viele Jahre in Paris und arbeitete in der Modebranche. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Zeitschriften, unter anderem der italienischen »Vogue«, veröffentlicht. Nach einer schweren Krankheit begann sie erfolgreich, Romane zu schreiben. Die Autorin hat zwei erwachsene Kinder und lebt heute in München.
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Über dieses Buch
Ein bewegender Familienroman um ein dunkles Geheimnis, das die Jahrzehnte überdauert
Warum ist sie dem in den 50er-Jahren berühmten Mannequin Fleur wie aus dem Gesicht geschnitten? Dieser Gedanke lässt Bérénice keine Ruhe mehr, seit sie Fotos dieser Frau zum ersten Mal gesehen hat. Sie beginnt, Fragen zu stellen – und deckt die Geschichte zweier Schwestern auf, miteinander verbunden durch Liebe, Neid und Verrat …
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Impressum
eBook-Ausgabe 2012
Knaur eBook
© 2012 Knaur Taschenbuch
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Emmas Lee / Narratives / plainpicture
ISBN 978-3-426-41186-5
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