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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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dessen bleiches kleines Gesicht an die Stäbe des Geländers gepresst war. Die Frau blickte sie an. Tiefes Grauen erfasste Bérénice, denn jetzt sah sie, wie Blut auf den hellen Steinboden tropfte und dort eine Lache bildete. Blut, rotes Blut, grauenerregendes Blut. Und ihr Vater strich der Toten zärtlich die wirren Haare aus der Stirn.
    Doch da spürte Bérénice eine Bewegung neben sich, und ein erstickter Laut ließ sie aus ihrer Erstarrung auffahren. Ihre Mutter stand neben ihr, ohne das Kind auf der dunklen Treppe zu bemerken. Denise würgte, sie stieß einen gurgelnden Laut aus, einen unterdrückten Schrei, bis sie endlich die Sprache wiederfand: »Fleur! Mein Gott, Fleur!« Und dann: »Du … du Ungeheuer, du hast sie umgebracht, du hast meine Schwester umgebracht!«
    Der Vater erwachte aus seiner Entrückung, und sein Gesicht veränderte sich. Wut und Hass verzerrten es, als er mit geballten Fäusten auf Denise losging.
    »Auch du hast mich betrogen. Du hast mich um mein Kind betrogen, und dieses Kind, Fleurs Kind, dieser Bastard … Ich bringe euch beide um.«
    Bérénice hatte einen kleinen hilflosen Laut ausgestoßen, voller Angst und qualvollem Entsetzen. Da fuhr ihre Mutter erschrocken herum und sah das zitternde Kind auf der Treppe sitzen. Jetzt kam Leben in Denise, sie packte das Kind am Arm, zerrte es von der Treppe und dann die Stufen zur Apotheke hinunter, lief und stolperte mit ihm durch den Raum, riss die Tür auf …
    Ding, dang, dong,
erklang die Glocke fröhlich. Daran erinnerte sich Bérénice genau, die Töne aus dem Kinderlied
: Ding, dang, dong.
    Denise rannte und zerrte das Kind hinter sich her, immer weiter über den verlassenen Platz. Bérénice war hingefallen, sie hatte sich die Knie aufgeschlagen, sie fing zu weinen an. Da nahm Denise das Kind auf den Arm, rannte weiter und bog in die Rue Boursicault ein, bis sie mit keuchendem Atem endlich vor dem Haus ihrer verstorbenen Mutter Joselle stehen blieb.
    »Es wird alles gut«, hatte sie Bérénice zugeflüstert, immer wieder, während sie den Schlüssel unter der Matte hervorholte und mit zitternder Hand die Tür aufsperrte. »Es wird alles gut«, schluchzte und keuchte und stöhnte Denise. Bérénice aber war erstarrt in angstvollem Entsetzen, denn sie sah das Gesicht der Frau vor sich, den Kopf, der zur Seite fiel, die Augen, die auf sie gerichtet waren, und das Blut, das rote Blut, das vom Tisch heruntertropfte und auf dem hellen Steinboden eine Lache bildete.
    Es wird alles gut … Es wird alles gut …
    *
    »Es wird alles gut. Es wird alles gut.« Bérénice kauerte auf Denise’ Bett und hatte ihr Gesicht in der Pelzjacke vergraben. »Es wird alles gut«, flüsterte sie immer wieder in das weiche Fell. Tränen rannen ihr über das Gesicht, die Zähne schlugen aufeinander. Lange saß sie da, bis sie sich aufraffte, die Pelzjacke packte, nach ihrer Tasche griff und hinunterlief. Sie stolperte auf der Wendeltreppe, doch sie konnte sich gerade noch am Geländer festhalten. Unten warf sie die Eingangstür hinter sich zu, hastete ein paar Schritte weiter und blieb stehen. Dann drehte sie sich langsam um. Sie warf einen letzten Blick auf das Haus, das es in einigen Tagen nicht mehr geben würde.
    Unschlüssig ging sie zur Place de la Victoire. Wo sollte sie hin, was tun? In der Mitte des Platzes blieb sie stehen und sah sich um. Doch sie nahm nichts wahr, sie erkannte niemanden, obwohl einige Leute sie freundlich grüßten. Bérénice achtete nicht auf sie, die Pelzjacke fest an sich gepresst, blieb sie unbeweglich stehen, froh über die offenen Geschäfte rund um den Platz, die Lichter, die vielen Menschen.
    Sollte sie zur Polizei gehen und erzählen, dass sie als Vierjährige einen Mord gesehen hatte, einen Mord, den Etienne Aubry begangen hatte? Die Chance, dass man ihr glaubte, war gleich null. Etienne Aubry, einer der angesehensten Honoratioren von Saint-Emile, ein Mörder? Er, dem jeder Bürger Respekt und Achtung entgegenbrachte? Sie hatte keine Beweise, und letztendlich war sie ein Kind gewesen. Und Denise würde schweigen, so wie sie selbst im Krankenhaus schwieg, wenn man ihr Fragen über die Vergangenheit stellte.
    Wo hatte Etienne die tote Fleur hingebracht? Was hatte er mit ihr gemacht? Bérénice schauderte bei dem Gedanken.
    Plötzlich stieg ein furchtbarer Verdacht in ihr auf. Vielleicht hatte sie als Kind das alles nur geträumt, vielleicht hatte die Pelzjacke die Erinnerung an einen Alptraum

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