Die Stunde der Schwestern
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1
April 2001
Paris und Saint-Emile
D urch den schmalen Spalt der Schlafzimmertür beobachtete Hippolyte seine Frau, wie sie den Kopf ein wenig zur Seite neigte, um aus dem Fenster zu sehen. Müdigkeit und Erschöpfung zeigten sich auf Bérénice’ schönem Gesicht, während sie einen Moment still zusah, wie sich der Morgenhimmel über den grauen Dächern von Paris zu einem dunstigen Gelb verfärbte.
Vielleicht dachte sie in diesem Moment an einen anderen Morgen, den auch Hippolyte niemals vergessen konnte. Der Tag, als der Mistral über die Hügel heraufwehte und den Duft der fernen Lavendelfelder herüberbrachte.
Es war der Morgen ihrer Hochzeit gewesen, als Bérénice mit dem Fahrrad den Weg durch die Weinberge herauffuhr. Unentschlossen war sie vor dem alten Steinhaus mit seinen hellblauen Fensterläden, dem
Maison Bleue
, stehen geblieben, verfangen in Zweifel, ob es richtig gewesen war, zu kommen. Sie hatte sich heimlich aus dem Haus ihrer Mutter geschlichen und war losgefahren, um ihren Verlobten vor der kirchlichen Trauung noch einmal schnell zu umarmen. Hippolyte hatte die ganze Nacht vor fieberhafter Erwartung nicht schlafen können und saß bereits seit der frühen Morgendämmerung unter dem alten Olivenbaum, der mit seinen knorrigen Ästen fast die ganze Vorderfront des Hauses verdeckte. Als er Bérénice im hellen Morgenlicht dort stehen sah, fing sein Herz an zu hämmern. Er war aufgesprungen und ihr mit offenen Armen entgegengelaufen, während der Wind heftig an seinen Haaren zerrte und ihm den Atem nahm.
Es war ein Moment vollkommenen Glücks gewesen, ein Augenblick, der die Erfüllung all seiner Träume in sich barg.
Hippolyte ließ sich zurück auf das weiche Kissen fallen und schloss die Augen. Vier Jahre waren vergangen, seit sie das Weingut
La Maison Bleue
verlassen mussten. Damals wollte Bérénice nach Paris, um hier ein neues Leben zu beginnen, weit weg von der Provence. War sie jetzt glücklich? In dieser lauten Stadt, die niemals schlief? Hippolyte wusste es nicht. In diesen vier Jahren, in denen sie sich mit ihren außergewöhnlichen Arbeiten in der Haute Couture zu etablieren suchte und oft die Nächte durcharbeiten musste, war er als Vertreter für südafrikanische Weine durch Frankreich gefahren, um Provisionen kämpfend, die oft gekürzt wurden, wenn ein Kunde nicht bezahlt hatte. War er dann für ein paar Tage zu Hause, redeten sie über Geldprobleme, ihre Miete, das geringe Honorar, das Bérénice in der Haute Couture verdiente. Der tägliche Kampf um die Existenz hatte sie beide ausgelaugt. Jeder war versunken in seinen Problemen, und es gab keine Zärtlichkeit, nur noch Schweigen und Fremdheit zwischen ihnen. Aber vielleicht wollten sie das auch nicht anders: nicht sprechen müssen über die Vergangenheit, über die Geschehnisse jener Nacht, die ihr Leben verändert hatte.
Hippolyte hörte, wie Bérénice sich erhob und die kleine Arbeitslampe auf dem Tisch ausknipste. Da stand er mit einem Ruck auf und trat aus dem Dunkel des Schlafzimmers hinaus seiner Frau entgegen.
»Ich muss mit dir reden.«
Doch als er in das blasse Gesicht von Bérénice sah, die sich fröstelnd den alten Bademantel um die Schultern zog, konnte er nicht mehr von seiner Einsamkeit sprechen, auch nicht über seine Sehnsucht nach der Stille der Weinberge, den intensiven Farben des Lavendels und den Sonnenblumen, über die sich der tiefblaue Himmel der Provence spannte. Wenn er als Kind den Hang hinter seinem Elternhaus hochgestiegen war, musste er sich einen schmalen Weg durch stachelige Brombeersträucher bahnen, begleitet von dem lauten Zirpen der Grillen und dem starken Duft nach Thymian und Basilikum, die im Garten seiner Mutter wuchsen. Diese Erinnerung nahm ihn immer mehr gefangen, ließ ihn nicht los, bis er vor einigen Tagen eine Entscheidung getroffen hatte.
Während seine Gedanken wieder abschweiften, wartete er auf eine Reaktion seiner Frau, vielleicht Interesse an seinen Plänen, Neugierde, was er mit ihr besprechen wollte. Doch Bérénice warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu, griff sich den Karton, der auf dem Stuhl neben ihr bereitstand, und stellte ihn auf den Tisch. Vorsichtig schichtete sie die zarten Organzablüten hinein und bedeckte sie mit Seidenpapier. Ihre Stickereien waren kleine Kunstwerke. Dieses besondere Talent hatte sie von ihrer Mutter Denise geerbt, die ausgefallene Stickereien für die »Damen der Gesellschaft« der kleinen Stadt Saint-Emile anfertigte. Vor
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