Die Suende der Engel
Maximilian gesehen hat, viele Gründe zusammenkommen mußten, um eine solche Krankheit entstehen zu lassen.«
»Er hat dieses Mädchen zu töten versucht, in dem Moment, da sie sich ihm als Frau zeigte! Das kann doch nur mit mir zusammenhängen. Es hängt immer mit der Mutter zusammen. Und ich habe...«
Manchmal, wenn sie in diese Litanei verfiel, ihre Taten aus vergangenen Tagen heraufbeschwor, hätte er sie am liebsten angeschrien: »Ja, vielleicht hast du schuld! Vielleicht hat es ihn krank gemacht, seine Mutter Tag für Tag bei den obszönen Verrenkungen mit diesem Wunder der Liebeskunst, Andrew Davies, zu erleben! Aber, verdammt, ich kann’s nicht mehr hören! Ich kann nicht mehr hören, wie du dich wegen deiner Kinder zerfleischst! Hast du einmal überlegt, was du bei mir angerichtet hast?«
Aber er hatte es nie gesagt. Er hatte sie nicht noch
mehr aufregen wollen, sagte er sich. Aber in Wahrheit hätte er es nicht ertragen, ihr und sich seinen Schmerz, seine Verletztheit einzugestehen. Denn wenn er den Schmerz einmal beim Namen nannte, wurde er Wirklichkeit. Dann konnte er nie wieder so tun, als sei er nicht vorhanden.
Er hätte halb verrückt sein müssen vor Kummer, das wußte er. Er hatte auf einen Schlag seine Kinder verloren, seine beiden einzigen Söhne, und er hatte sie auf besonders grausame, erschreckende Weise verloren. Verbrannt der eine, erschossen der andere. Die meisten Väter wären über einen solchen Schlag ein Leben lang nicht hinweggekommen. Sie hätten das Schicksal, Gott, die Welt angeklagt. Sie wären dem Alkohol verfallen, hätten ihre Existenz ruiniert oder Depressionen bekommen. Aber niemals hätten sie sich befreit gefühlt.
Phillip atmete ein zweites Mal tief durch. Natürlich trauerte er um seine Kinder. Er empfand Entsetzen und Ungläubigkeit angesichts dessen, was geschehen war. Aber - so beschämend das sein mochte - er fühlte sich auch befreit. Befreit von einer unerträglichen Bürde, von einer Vergangenheit, an der er stets allzu schwer getragen hatte. Befreit von dem Grübeln um Schuld und Versagen. Er hatte alles verloren, seine Frau und seine Kinder. Abgehakt. Er konnte nur wieder und wieder diese Worte denken. Abgehakt. Befreit.
Er begann leise zu weinen.
MITTWOCH, 14. JUNI 1995
»Niemals«, sagte Andrew, »hätte ich für möglich gehalten, daß du so etwas tust. Daß du so etwas tun könntest!« Die Asche fiel von seiner Zigarette hinab auf die Tischdecke; er hatte vergessen, sie abzuklopfen. Es kümmerte ihn nicht, so wenig, wie es ihm noch etwas ausmachte, daß er seinem einstigen Vorsatz, mit dem Rauchen aufzuhören, inzwischen gänzlich untreu geworden war. Seit ein paar Stunden nun rauchte er Kette. Janet ebenfalls. Sie saßen in einer Cafeteria im Flughafen von Nizza, tranken schwarzen Kaffee und Mineralwasser, rauchten und entfernten sich von Minute zu Minute weiter voneinander.
Draußen flimmerte die Luft über dem Flugfeld in der Mittagshitze. Drinnen herrschte reges Treiben. Die Urlaubssaison begann, Ströme von Touristen trafen ein, bereit, sich über die Strände und Hotels der Côte d’Azur zu ergießen. Auffällig groß war der Anteil alleinreisender Frauen, die mit einer Unmenge Gepäck kamen, schicke Kleider trugen, mit Hilfe der Sonnenbank bereits für eine attraktive Bräune gesorgt hatten und ihren angespannten Gesichtern durch das Tragen raffiniert geformter Sonnenbrillen einen mondänen Anstrich gaben. Sie zogen alle Register, in der Hoffnung auf ein paar Wochen Glanz und Glamour, der Illusion von großer Welt und, als höchsten Traum, auf eine romantische Begegnung, die sich vielleicht hinüberretten ließ in den eintönigen Alltag hinter einem Schreibtisch oder einer Ladenkasse.
Andrew und Janet jedoch bemerkten nichts von den Menschen ringsum, nichts von Stimmengewirr, Gelächter und eilenden Schritten. Sie lauschten nicht auf die Flugansagen, nicht auf Informationen, auf Namen, die ausgerufen wurden. Sie befanden sich auf einer Insel, abgetrennt vom Rest der Welt, aber nicht aneinandergerückt, wie es üblich ist bei Inselbewohnern. Zwischen ihnen lag ein ganzes Meer an Unverständnis, Fassungslosigkeit und steigender Feindseligkeit.
Auf Andrews Bemerkung - er habe es nicht für möglich gehalten, daß sie so etwas tun könnte - hatte Janet nichts erwidert. Sie versuchte nicht, um Verständnis zu werben, gab keinerlei Erklärungen oder Begründungen ab. Sie schien zu erwarten, daß er verstand, und wenn er das nicht tat, so war es
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