Die Sünderin von Siena
einem schönen, im Lauf der Jahre allerdings stark nachgedunkelten Fresko, das das Gleichnis vom verlorenen Sohn darstellte, bei seiner Heimkehr vom Vater tränenreich umarmt, einen von Pergamenten überquellenden Schreibtisch, der wie auch diverse Feder kiele und gleich mehrere Tintenfässer vom unermüdlichen Fleiß des Rektors zeugte.
»Seid Ihr hungrig?« Barna deutete auf seine einfache Mahlzeit. »Dann greift zu! Mehr als hier steht, kann ich Euch allerdings nicht anbieten.«
Matteo schüttelte den Kopf.
»So seid Ihr sicherlich gekommen, um mir mitzuteilen, dass Ihr morgen in aller Frühe mit dem Wandgemälde beginnen werdet.« Die hellen Augen des Rektors musterten ihn kühl.
»Bestimmt nicht morgen«, erwiderte Matteo, dem nicht entging, wie sich bei diesen Worten das Gesicht seines Gegenübers verdüsterte. »Doch gewiss sehr bald.«
Nardo Barna erhob sich so heftig, dass er beinahe den Stuhl umgeworfen hätte. Jetzt sah er aus, als habe er etwas Verkehrtes gegessen.
»Das alte Spiel?«, fragte er. »Aber mit mir spielt man nicht. Habt Ihr das noch immer nicht gelernt, Minucci?«
»Nichts läge mir ferner, als zu spielen«, erwiderte Matteo sehr ruhig. »Wie aber könnte ich mit dieser Arbeit beginnen, wenn die entscheidenden Fragen noch immer ungeklärt sind?«
»Wenn Ihr jetzt wieder mit dem leidigen Vorschuss anfangen wollt, so …«
»Von dem rede ich jetzt nicht. Ihr wisst genau, was ich meine.«
Der Rektor starrte ihn wütend an. »Einem störrischen Feldesel gleich beharrt Ihr so lange auf Eurer Meinung, bis der andere irgendwann zermürbt aufgibt, nicht wahr?«, sagte er. »Keine üble Taktik. Muss ich mir merken! Denn ich kann förmlich spüren, wie sie selbst bei mir zu wirken anfängt.«
»Ihr seid also damit einverstanden, dass ich jene Szenen aus dem Leben der Gottesmutter male, so wie ich sie Euch mehrmals vorgeschlagen habe?«
Barna ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen.
»Ihr werdet ja vorher doch keine Ruhe geben«, sagte er. »Aber ich dulde nichts Anstößiges, nichts Skandalöses, verstanden? Die Botschaft des Engels, wie besprochen, meinethalben auch noch die Begegnung an der Goldenen Pforte …«
»Meint Ihr nicht auch, dass die kleine Maria geatmet und gespielt hat wie jedes andere Kind?«, unterbrach ihn der Maler. »Dass sie weinte, nach der Mutter rief und sich gern vor ihren Freunden versteckte? Dass sie wuchs im Lauf der Jahre und dabei an Schönheit und Wissen dazugewann? Was also könnte es Sinnvolleres geben, als genau das alles darzustellen – in einem Haus, wo so viele mutterlose Kinder leben?«
»Ihr habt mich ganz genau verstanden«, sagte der Rektor. »Ich dulde nichts, das von der Tradition abweicht und im schlimmsten Fall sogar unziemlich irdisch daherkäme. Was heilig ist, muss auch heilig bleiben – und damit basta! Außerdem ist es seit jeher recht und billig, dass der Auftraggeber auch den Inhalt bestimmt. Und Euer Honorar stammt aus der Kasse von Santa Maria della Scala, vergesst das nicht!«
Er rümpfte seine schmale Nase.
»Vielleicht würde es schon helfen, wenn ein geachteter Vertreter der artes minores wie Ihr etwas mehr auf sich selber schauen würde? Was hieltet Ihr von diesem Vorschlag? Äußerliche Ordnung kann sehr wohl dazu beitragen, auch die innere Gedankenwelt etwas mehr in Ordnung zu bringen.«
Lautes Klopfen, dann traten zwei Männer ein, der erste feingliedrig und mittleren Alters, der andere ein junger, ungeschlachter Hüne, der einen schweren Sack über der Schulter trug.
»Savo!« Der Rektor schien erleichtert über die Unterbrechung. »Messer Savo Marconi, welch unerwartete Freude!«
»Hier kommen endlich die versprochenen Medikamente«, sagte der Apotheker mit feinem Lächeln. Seine Züge waren scharf, aber gut geschnitten, als hätte ein kundiger Bildhauer mit sicherer Hand den Meißel gesetzt, und abgesehen von ein paar Linien um Augen und Mund kaum gezeichnet von den Spuren des Alters. Er war in Wolle und Damast gekleidet, trug seidene Beinlinge und glänzend gewienerte Schnabelschuhe. Sein ausgefallener Geschmack war stadtbekannt; Savo Marconi galt als wohlhabend, gebildet und äußerst kultiviert. Nach dem frühen Tod seiner Frau hatten zahlreiche Damen der Gesellschaft gehofft, die Gunst der Stunde nutzen zu können und so bald wie möglich deren Stelle einzunehmen. Er jedoch, scheinbar unbeeindruckt von all ihren Anstrengungen, war bis zum heutigen Tag Witwer geblieben und schien sich dabei äußerst wohl zu
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