Die Sünderin von Siena
arme Sünder.«
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Den Weg hinunter nach Fontebranda war Gemma schon sehr lange nicht mehr gegangen, und als sie das holprige, wie stets von Lauge und Farben leicht schmierige Pflaster unter ihren Sohlen spürte, wurde ihr erst richtig bewusst, dass sie die letzten Jahre nichts anderes als eine Gefangene gewesen war – auch wenn der Käfig nach außen hin gol den ausgesehen hatte. Sie sog begierig die Luft ein, geoss die unterschiedlichen Gerüche, ihr seit Kindheitstagen vertraut. Das stattliche Haus ihres Vaters lag nur ein paar Straßen weiter; von klein auf hatte sie zusammen mit ihm die Färber besucht und dabei fasziniert beobachtet, was Krapp, Waid, Schwarzdorn, Berberitze, der kostbare Saft der Kermesläuse und vieles andere mehr aus ungebleichter Wolle machen konnten. Hier waren die Häuser schmaler als gewöhnlich in der Stadt und viele der Fenster gegen die Kälte noch mit Schweinsblasen verschlossen, weil das neumodische Glas unerschwinglich teuer war. Man sah es auch an der Kleidung, dass hier einfachere Leute wohnten, und die meisten der Kinder, die auf der Straße spielten, trugen die billigen Holzschuhe.
Keinen Steinwurf entfernt stand das Haus der kinderreichen Färberfamilie Benincasa, deren Letztgeborene namens Caterina viele in Siena bereits als Heilige verehrten, obwohl sie kaum zwanzig war und weder lesen noch schreiben konnte. Es hieß, sie habe sich in eine winzige Zelle zurückgezogen, lebe nur noch von Wasser und Hostien und lehne jeglichen Kontakt mit der Welt ab. Dennoch wuchs die Zahl ihrer Anhängerinnen auf wundersame Weise. Sie nannten sich wie auch Caterina Mantellatinnen, gehörten zum Dritten Orden des heiligen Dominikus und waren tätig in der Armenfürsorge und Krankenpflege. Jede einzelne von ihnen strebte offenbar danach, Caterina an Vollkommenheit gleichzukommen. Manchmal hatte es den Anschein, als wolle jedes zweite junge Mädchen in Siena nun auch Heilige werden.
Gemma hatte sich stets in diesem Viertel besonders wohlgefühlt, unter anderem auch, weil an den meisten Häusern das rot-weiß-grüne Banner der Gans flatterte, das sie liebte. Bartolo Santini war es gelungen, seine Tochter beizeiten davon zu überzeugen, dass die Färber und ihr altes Handwerk Achtung verdienten.
»Als Stoffhändler haben wir ihnen viel zu verdanken«, pflegte er zu sagen. »Alles sogar, wenn du so willst. Sie und wir gehören untrennbar zusammen; einer wäre ohne den anderen gar nicht denkbar. Dabei haben sie ohne Murren den schwierigeren Part übernommen. Denn würden sie sich nicht Tag für Tag im Gestank der Laugen schinden, unser Tisch könnte niemals so reich gedeckt sein. Daran solltest du immer denken!«
Für einen Augenblick setzte Gemma den schweren Korb ab und richtete sich stöhnend auf. Dabei drückte die hölzerne Kraxe auf ihrem Rücken unerbittlich auf die Nieren; sie konnte es kaum erwarten, die Last endlich loszuwerden. Eigentlich wollte sie jetzt keinesfalls an den Vater denken – und musste es wider Willen dennoch tun.
Ob Lupo ihn schon über ihre Flucht in Kenntnis gesetzt hatte? Wie würde Bartolo reagieren? Sie verdammen? Oder jemanden aussenden, um sie so schnell wie möglich zurückzuholen?
Oder hatte Lupo beschlossen, sie allein aufzuspüren? Falls ihm das gelang, musste sie mit seiner Rache rechnen.
Unwillkürlich drehte sie sich um und spähte die steile Straße hinauf und hinunter, aber zu ihrer Erleichterung war weit und breit kein Verfolger zu sehen. Und dennoch hatte es sie regelrecht Überwindung gekostet, das Hospital zu verlassen. Wäre da nicht Celestinas wacher Blick gewesen, dem nichts zu entgehen schien, sie hätte sich bestimmt im letzten Moment eine Ausrede zurechtgezimmert.
Sie nahm den Korb wieder auf und setzte sich erneut in Bewegung.
»Das schmale Haus mit den blauen Läden«, hatte Celestina gesagt. »Du kannst es gar nicht verfehlen …«
»Gemma? Gemma Santini!« Es war Lelio, der ihr entgegenrannte, das Gesicht erhitzt, die Augen blank vor Freude. » Du bringst uns heute die Vorräte!« Wie ein aufgeregter Welpe sprang er um sie herum, so ungestüm, dass sie aus dem Gleichgewicht geriet und beinahe über ihren Rocksaum gestolpert wäre.
»Wenn du so weitermachst, werden wir beide auf der Nase landen«, sagte sie lachend.
Jetzt riss er ungeduldig an ihrem Korb.
»Hast du vielleicht Angst, ich würde es mir noch einmal anders überlegen?«, sagte Gemma. »Brauchst du nicht. Ihr sollt ja alles haben. Lass los, Lelio, wir sind doch
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