Die Sünderin von Siena
hierfür etwas einfallen lassen. Nach seinen Anordnungen wurden große Teigfladen ausgerollt, in denen sich so mancherlei versteckt einwickeln ließ, ganze Enten beispielsweise, die bei günstiger Auslegung der heiligen Regeln notfalls als Wassergetier gelten konnten und wiederum mit Tauben gestopft waren. Dazu sollte es pasta geben, kandiertes Zwiebelgemüse und Konfekt. Übelkeit stieg in Gemma hoch, als sie an diese Völlerei dachte, während jetzt zum Winterende viele Menschen in Siena darben mussten. In der Küche hörte sie die Frauen reden und lachen, und das nur allzu vertraute Gefühl von Einsamkeit schloss sie ein wie eine zweite Haut.
Die Bediensteten um Hilfe bitten? Das konnte und wollte sie nicht. Sie standen ebenfalls unter Lupos Gewalt, wie sie selber es viel zu lange getan hatte. Von oben hörte sie mühsame Schritte.
Ihr Blick glitt Hilfe suchend umher, da sah sie an einem Nagel an der Wand ihren alten braunen Umhang, den sie erst unlängst an eine der Mägde abgetreten hatte. Sie griff nach ihm, warf ihn sich um die Schulter und drückte fest auf die Klinke. Die Haustüre war nicht abgeschlossen wie so oft in letzter Zeit, der Madonna sei Dank!
Wie im Traum stolperte sie hinaus auf die Straße und konnte gerade noch einem hoch beladenen Geflügelkarren ausweichen, indem sie sich rasch an die Mauer drückte. Erst als er vorübergerumpelt war, bemerkte sie, dass die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war.
Sie war draußen – in Freiheit.
Ein letzter Blick auf das dreistöckige Haus mit der reich gegliederten Fassade und den Bogenfenstern, nach außen einem Palast ähnlich, innen jedoch beherrscht von Kälte und Hass. Eine kräftige Böe fuhr in die Fahne der Contrade, die vom ersten Stock herabflatterte, und ließ das Emblem des Einhorns tanzen. Damals, als die Hochzeit immer näher rückte, war Nonna Vanozza nicht müde geworden, ihr die alten Geschichten über jenes scheue Fabeltier zu erzählen, und Gemma hatte aufgeregt Wort für Wort in sich aufgesogen. Da allerdings hatte sie noch nicht ahnen können, dass das Horn vergiftet war und wie heftig und anhaltend diese Wunde bluten würde.
Sie begann zu laufen, um diese Gedanken wieder loszuwerden, und die Bewegung tat gut, denn der Wind, der ihr entgegenfauchte, war noch immer kalt, selbst hier, in den engen Gassen, wo sich während der Sommermonate die Hitze wie eine unsichtbare Wand stauen konnte. Anfangs merkte Gemma kaum, wohin sie gelangte, ihre Füße aber schienen den Weg zu kennen, und sie war zu sehr mit sich selber beschäftigt, um auf die neugierigen Blicke zu achten, die sie streiften. Die Kapuze weit ins Gesicht gezogen, ließ sie Lupo di Cecco und alles, was mit ihm verbunden war, Schritt für Schritt hinter sich.
Von einer der schmalen Nebenstraßen aus sah sie kurz den Campo, der ihr leer und ungewohnt öde vorkam, und erst als er schon hinter ihr lag, wusste Gemma plötzlich, weshalb. Die Mauersegler fehlten, jene rußigen Federakrobaten der Lüfte, die bis in den Herbst hinein ihre rasanten Flugmanöver um die Turmspitzen veranstalteten. Sie würde auf ein Wiedersehen noch warten müssen, denn obwohl das Osterfest nicht mehr fern war, hielt der Winter die Stadt so fest in seinem Griff, als sollte es niemals wieder Frühling werden.
Erst als sie atemlos vor dem Domportal stand, begriff Gemma, dass die Kathedrale von Anfang an ihr Ziel gewesen war. Lupo zu Gefallen hatte sie seit ihrer Hoch zeit die heilige Messe meist in der Basilika San Francesco besucht, doch nirgendwo sonst in Siena fühlte sie sich Gott näher als zwischen diesen strengen schwarz-weißen Säulen, die alles Alltägliche nach draußen verbannten und zur inneren Sammlung mahnten. Dämmerlicht umfing sie, als sie das riesige Kirchenschiff betrat, langsam und ehrfürchtig, genau so, wie die Mutter es ihr in frühesten Kindertagen beigebracht hatte.
Sie tauchte die Fingerspitzen in ein Weihwasserfass und schlug das Kreuzzeichen. Plötzlich hatte sie weiche Knie. Obwohl der Tod der Mutter eine halbe Ewigkeit zurücklag, vermisste Gemma sie plötzlich, als hätte sie sie gerade erst verloren.
»Ich wollte dir doch keine Schande machen«, flüsterte sie, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand da war, der sie hätte belauschen können. »Niemals! Und Vater natürlich ebenso wenig. Aber du warst schon lange nicht mehr da, als Lupo um mich geworben hat. Sonst hättest du mich sicherlich vor ihm gewarnt. Lavinia dagegen konnte es gar nicht schnell
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