Die Sünderinnen (German Edition)
schulterlange, kastanienbraune Haar trug sie offen. Optimal geschminkt hätte man sie vielleicht sogar eine kleine Schönheit nennen können. Jedenfalls besaß sie einen hübsch geschwungenen, vollen Mund und riesige, ausdrucksvolle Augen, die leider ein wenig traurig ins Leben blickten. Fast wie in Trance ging sie ins Behandlungszimmer zu dem Sessel, den Mark für seine Patienten bereitgestellt hatte.
Mark nahm in einem stumpfen Winkel zu ihr Platz. In den meisten Fällen wählte er diese Anordnung der Sitze. So konnte ein direkter Blick ohne große Anstrengung vermieden werden. Viele seiner Patienten drangen tiefer in ihr Innerstes ein, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Oft klangen die intimsten Geständnisse wie ein Selbstgespräch. Doch Marion Karsting war anscheinend noch nicht so weit. Nervös wanderten ihre Augen durch den spärlich möblierten Raum und blieben dann an dem Gemälde hängen, das in einem warmen Gelbton gerahmt war.
Mit viel Phantasie konnte man darauf eine grüne Wiese mit rotem Klatschmohn erkennen. Das Bild hatte sein Freund Daniel Berger höchstpersönlich gemalt. Susanne hatte es letztes Jahr zu Weihnachten in Auftrag gegeben, als Geschenk für Mark. Direkt unter dem Bild stand eine graugrüne Couch mit zwei bunt bedruckten Sofakissen. Das gemütlich anmutende Möbelstück wurde selten genutzt, nur wenn der Patient ausdrücklich darum bat. Die meisten zogen es jedoch vor, ihrem Psychologen auf Augenhöhe schräg gegenüberzusitzen. Deshalb hatte Mark den Raum mit identischen Sesseln für den Patienten und den Therapeuten bestückt.
Während Marion Karsting den roten Klatschmohn intensiv betrachtete, wurde Mark immer ungeduldiger. »Gefällt Ihnen das Motiv?«, fragte er leicht gereizt.
»Ja sehr. Alles wirkt so friedlich.«
»So friedlich würden Sie sich Ihr Leben wünschen, nicht wahr?«
»Ja, ja«, seufzte sie. »Leider sieht es darin ganz anders aus.«
»Was empfinden Sie, wenn Ihr Mann handgreiflich wird?«, kam er ohne Umschweife auf ihr Hauptproblem.
Während er die Patientin aufmerksam musterte, nestelte sie mit gesenktem Blick an ihrem lindgrünen Leinenkleid herum. Die Geste erinnerte ihn schmerzlich an Lea. In seltenen, ehrlichen Momenten gestand er sich ein, dass ihn eigentlich jede Patientin in irgendeiner Weise an seine erste Frau erinnerte.
»Erst fühle ich mich beschmutzt«, unterbrach Marion Karsting plötzlich seine Gedanken. »Aber auch schuldig. Ja, schuldig. Wenn er mich schlägt, muss ich doch schuldig sein. Oder nicht?«
»Im Gegenteil«, erwiderte er nachdrücklich. »Der Fehler liegt nicht bei Ihnen. Trotzdem sind diese Schuldgefühle typisch in Ihrer Situation.«
»Wirklich?«, fragte sie ungläubig.
»Der Täter legt es darauf an, dass sich sein Opfer schuldig fühlt. Denken Sie an die letzten Handgreiflichkeiten Ihres Gatten. Was ging ihnen voraus?«
»Er hat mich beschuldigt, wichtige Unterlagen verlegt zu haben. Sie wissen ja, Klaus Eberhardt ist Staatsanwalt. Die Akten waren sehr wichtig.«
»Und?«, fragte Mark mit mühsam unterdrückter Ungeduld. »Haben Sie sie tatsächlich verlegt?«
»Nein, auf keinen Fall. Ich rühre niemals seine Unterlagen an. Ich weiß ja, wohin das führt.«
»Trotzdem benutzt Ihr Mann diesen Vorwand, um Sie zu schlagen.«
»Sie meinen, er könnte die Akte selbst verlegt haben?«, fragte sie mit ungläubiger Miene. »Absichtlich?«
»Das habe ich nicht behauptet«, entgegnete Mark, wobei er Marion Karsting genau beobachtete. »Aber hatten Sie selbst nicht schon einmal diesen Verdacht?«
Heftig schüttelte sie den Kopf, vielleicht etwas zu heftig. Falls er sich nicht täuschte, glitzerten nun Tränen in ihren Augen.
»Vielleicht würde es Ihnen helfen, Ihren Mann dabei zu entdecken.«
»Wobei?«
»Ich meine, wie er selbst die Fakten schafft, für die er Sie beschuldigt.«
»Ab jetzt werde ich darauf achten«, erwiderte Marion Karsting mit tränenerstickter, dennoch entschlossener Stimme.
Durfte Mark ihre Ankündigung endlich als kleinen Durchbruch werten, nachdem sie in den zahlreichen letzten Sitzungen keinerlei Fortschritt gemacht hatten? Mit einer gewissen Genugtuung erkannte er, dass sich ihre schmalen Hände ansatzweise zu Fäusten ballten. Anscheinend glaubte sie ihm und stellte ihre eigene Täterrolle zum ersten Mal in Frage. Hoffentlich würde sie sich später nicht wieder auf ihre alte Position zurückziehen. Immerhin hatte er dieses Verhalten im Laufe seines Berufslebens nur zu oft erlebt.
»Sie
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