Die Sünderinnen (German Edition)
sang er einen alten Choral. Dann warf er noch einen zufriedenen Blick auf die übel zugerichtete Leiche und verließ das Bad. In der Diele stopfte er Schürze und Handtuch in eine Ledertasche, in der er auch wertvolle Utensilien für seine Maskierung transportiert hatte. Er setzte die blonde Perücke und die Hornbrille auf, schlüpfte in eine Jacke. Jetzt konnte keiner mehr die Blutflecke an den Hemdsärmeln sehen. Er begutachtete sich kurz im Garderobenspiegel, dann verließ er eilig die Wohnung.
»Bis dass der Tod euch scheidet«, murmelte er, während er die Treppenstufen hinunterstieg.
»Bis dass der Tod euch scheidet, bis dass der Tod euch scheidet«, wiederholte er wie ein Mantra, immer und immer wieder.
Mark Milton umklammerte das Brückengeländer und schaute auf die nahezu spiegelglatte Oberfläche des Masurensees hinunter. Nach einiger Zeit wechselte er auf die andere Seite der Brücke. Nun erkannte er rechts die Badeanstalt, die jetzt, im April, natürlich noch geschlossen hatte. Er selbst kam meist nur zur Sechs-Seen-Platte im Duisburger Süden um zu joggen. Wenn er im Sommer wirklich einmal ein Bad vorzog, stieg er an einer der zahlreichen Stellen des Ufers ins Wasser, die an heißen Tagen von den Badefreunden als Strand genutzt wurden. Aber bis zur Badezeit mussten sie sich noch etwas gedulden, dachte Mark, während er die kleinen Dampfschwaden betrachtete, die er stoßweise ausstieß.
Seufzend gönnte er sich einen letzten Blick über den stark bewaldeten Wolfssee bis hin zu den Hochhäusern in der Ferne, dann setzte er sich wieder in Bewegung. Während er die letzten Meter über die Brücke lief, wandte er den Kopf wieder in Richtung Masurensee. Die Boote, die dort im Sommer startbereit vor Anker lagen, hatten auch noch keine Saison. Ähnlich wie in meiner Ehe mit Susanne, dachte er wehmütig. Anscheinend liegen unsere Gefühle auch auf Eis. Dabei hoffte er nicht einmal auf den unausbleiblichen Frühling. Hilfe kam eben nie von außen, genau das predigte er immer seinen Patienten. Als Psychologe war ihm nur zu bewusst, wie sehr man selbst für sein Schicksal verantwortlich war.
Unwillkürlich musste er an seine erste Frau Lea denken. Die schreckliche Erinnerung an das Ende hielt ihn immer noch gefangen, obwohl er schon seit einigen Jahren mit Susanne verheiratet war. Keuchend hüpfte er über einige abgesägte Baumstümpfe. Ein kleines Rinnsal umfloss die natürliche Sperre und mündete wenige Meter weiter in den See. Was war nur mit seiner jetzigen Ehe los? Nachdem Susanne und er zwei Wunschkinder bekommen hatten, lief die Beziehung nun in eine Richtung, die ihn zunehmend beunruhigte. Der geschulte Blick des Psychologen half ihm zwar, das Problem zu erkennen, bei der Lösung hatte er bisher jedoch kläglich versagt. Genau wie bei Lea. Auf keinen Fall durfte sich alles wiederholen.
Gedankenversunken lief er am Ufer entlang. Dabei schaute er gelegentlich zu der ruhigen Wasseroberfläche. Plötzlich verdunkelte sich der See. Während die Sonne hinter dicken grauen Wolken verschwand, glaubte er für einen Moment, das Antlitz der toten Lea im Wasser zu erkennen. Erschrocken wandte er sich ab.
Kriminalhauptkommissar Willibald Pielkötter saß an seinem Schreibtisch und stützte den Kopf auf seine Hände. Manchmal wurde ihm alles zu viel. Zwar hätte er sich um nichts in der Welt einen anderen Beruf gewünscht, aber nur solange man ihm zu Hause den Rücken freihielt. Genau davon konnte jetzt jedoch keine Rede mehr sein. Pielkötter fühlte sich mitten in einem Zwei-Fronten-Krieg. Seit gestern Abend überschlugen sich die negativen Ereignisse. Erst die Meldung von einem bestialischen Mord und dann das Gespräch mit seinem erwachsenen Sohn Jan Hendrik.
Mit einem flauen Gefühl im Magen dachte er an den häuslichen Streit. Der hatte ihn weitaus mehr aus dem Gleichgewicht gebracht als der Anblick der grauenhaft zugerichteten Frauenleiche. Jan Hendrik, sein Sohn, hatte lächelnd verkündet, dass er seine Neigung nun nicht länger vor den Mitmenschen verbergen wolle: Er sei schwul. Schwul! Schon allein das Wort mochte Pielkötter kaum aussprechen. Schwul, ausgerechnet sein Sohn. Während seiner Laufbahn bei der Mordkommission hatte er so viel erlebt, dass ihm kaum irgendetwas Menschliches fremd war. Dennoch hatte ihn Jan Hendriks Geständnis getroffen wie ein Hieb in die Magengrube. Zu allem Übel waren sie auch noch im Streit auseinandergegangen.
Wortlos hatte sein Sohn die Tür hinter sich
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