Die Süße Des Lebens
einige Stunden wird es föhnig sein und plötzlich wird man im Schnee einsinken. Dann wird der Regen kommen wie eine graue Wand.
Zweiundzwanzig
Ich habe ihn umgebracht.
Es ist ganz leicht. Du trittst einen Schritt hinter ihn, fasst ihn mit der linken Hand am Schopf, biegst seinen Kopf zurück und machst mit der rechten Hand den Schnitt. Du benötigst ein scharfes Werkzeug, ein Stanleymesser zum Beispiel. Keines mit Abbrechklingen, sonst geht das Ganze schief. Wenn du die Halsschlagadern erwischst, ist er nach wenigen Sekunden bewusstlos. Du ziehst ihn dir zurecht, wie du ihn brauchst, dann fährst du den Abschleppwagen so über ihn, dass sein Körper der Länge nach zwischen den Hinterrädern liegt. Du richtest den Amboss aus, musst dazu vielleicht ein Stück vor- oder zurückschieben, ziehst das Ding hoch bis zum Umlenkrad und löst die Stahlseilarretierung. Der Amboss fällt aus dreieinhalb Metern Höhe auf sein Gesicht. Du hast, was du möchtest.
Dass das Auto früher oder später gefunden wird, ist mir klar, ebenso, dass das Mädchen möglicherweise meine Stimme erkannt hat, denn die meisten Volksschüler der Stadt haben meine Stimme einmal gehört. Bei der Aktion einen Ärmelknopf zu verlieren, habe ich nicht geplant gehabt, aber da kann man nichts machen.
Die Sache zu tun, war leicht, wie gesagt. Schwierig war die Zeit davor.
Danach war ich müde, sonst nichts.
Es gibt diese Sätze, an denen man sich im Leben unwillkürlich orientiert, die sich dann aber als kompletter Unsinn herausstellen, wie zum Beispiel: Die Zeit heilt alle Wunden. Das Gegenteil ist der Fall. Die Zeit heilt gar nichts und manchmal sind es ein paar Sekunden, die dein ganzes Leben bestimmen. Bis zum Schluss.
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, ich habe einen Bruder. Stellen Sie sich vor, wir sind altersmäßig nicht allzu weit auseinander und jeder ist für den anderen so etwas wie die zweite Hälfte. Einmal haue ich ihm aus Wut den Fleischwolf über den Kopf und einmal reißt er den scharfen Schäferhund des Nachbarn mit bloßen Händen weg von mir, obwohl er mich schon an der Gurgel hat. Stellen Sie sich vor, ich wiederhole eine Klasse oder vielleicht sogar zwei, um ihn neben mir sitzen zu haben, und das soll dann so bleiben bis zum Ende der Schule. Wir tragen die gleiche Kleidung, wir lesen die gleichen Bücher und wir schlafen Seite an Seite. Wir sind nie getrennt außer für zwei Wochen, die ich wegen einer Blinddarmentzündung im Spital verbringen muss. Er wirft mir nachher vor, wenn ich nicht so viele Kirschkerne geschluckt hätte, wäre es nicht so weit gekommen.
Wann und wo es passiert, ist eigentlich egal. Es kann gestern gewesen sein oder vor vier Wochen oder vor sechzig Jahren. Es kann in Furth stattgefunden haben, in Salzburg oder zum Beispiel am Rand des Thüringer Waldes, in einem Dorf zwischen Eisenach und Meiningen, auf einem niedrigen Hügel über der Werra. Es sind einige Personen dabei, unter anderem er , mein Bruder und ich und noch jemand, der irgendwie heißt, Dorner oder Strolz oder Zillinger. Stellen Sie sich vor, er geht in das erste Haus hinein und brüllt herum und haut auf den Tisch und verlangt nach Verköstigung. Weil nichts da ist, lässt er die ganze Familie aufmarschieren, Mann, Frau und zwei Töchter, und dann fragt er , ob noch jemand im Haus ist, und die Frau sagt, ja, der Sohn, aber der kann nicht gehen. Er fragt, wo ist er, und die Frau sagt, oben, und er zwingt die Frau, mit hinaufzugehen. Wir finden den Sohn in einem kleinen Zimmer. Er sitzt, mit einem Leintuch festgebunden, auf einem Sessel mit Armlehnen und die Frau sagt, der Rollstuhl ist kaputt. Vor sich auf dem Tisch hat der Sohn ein unliniertes Schulheft liegen, daneben einen flachen Holzbehälter mit Buntstiften. Er hat offenbar die Seiten einzeln aus dem Heft gelöst und aus jeder Seite eine Flagge gemacht, die deutsche, die englische, italienische, die französische. Im Moment ist er dabei, das Feld rund um die Sterne der amerikanischen Flagge blau zu bemalen. Er nimmt die gezeichneten Flaggen an sich und befiehlt: Nach unten mit allen. Wir binden den Sohn los und ich trage ihn die Treppe runter, er ist ganz leicht. Unten legt er die Zeichnungen auf den Küchentisch und fragt, wie alt ist der Sohn, und die Mutter sagt, fünfzehn, auch wenn er nicht so aussieht, aber das kommt von seiner Behinderung. Da sagt er ganz ruhig, es gibt einen Befehl von Mansteuffel, in einem Haus, in dem eine weiße Fahne gezeigt werde, ausnahmlos jeden
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