Die Süße Des Lebens
männlichen Bewohner ab vierzehn zu erschießen. Da für ihn die englische, französische und amerikanische Flagge noch viel verabscheuungswürdiger seien als die feige weiße Fahne, bestehe kein Zweifel, dass die Bestimmung anzuwenden sei. Mein Bruder sagt, das können Sie nicht machen, und er sagt, und ob ich das machen kann, ich habe das Kommando, nur erschießen werden wir sie nicht. Es gibt einen Stall mit zwei Stellplätzen für Pferde und darüber einem kleinen Heuboden. Vorne läuft ein Balken quer durch den Raum.
Dem Mann tritt er selbst den Hocker unter den Beinen weg. Er zappelt kaum. Der Sohn kauert auf dem Boden, den Kopf zwischen den verkrüppelten Knien. Er tritt auf meinen Bruder zu und sagt, du hebst ihn auf und hängst ihn in die Schlinge, das ist ein Befehl, und mein Bruder fragt, was ist, wenn nicht?, und ich sage, das können Sie nicht tun, und er hebt sein Pistole, richtet sie auf mich und sagt zu meinem Bruder, dann erschieße ich zuerst ihn, dann dich. Mein Bruder hängt den Sohn in die Schlinge und er zappelt ebenfalls kaum. Ich schaue die ganze Zeit in sein Gesicht und es brennt sich in ein paar Sekunden ein wie sonst nichts auf der Welt.
Stellen Sie sich vor, mein Bruder erschießt sich dann, vielleicht gleich, velleicht ein Jahr später. Ich überlege lang, es auch zu tun. Ich bin nur noch halb.
Ich sehe das Gesicht vor mir. Ich weiß immer, wo es sich befindet. Schließlich folge ich ihm. Ich werde es auslöschen.
Er erkennt mich nicht mehr. Für ihn bin ich ein Fremder mit einer schwarzen Tasche. Das gibt mir alle Zeit der Welt.
Suchen Sie uns nicht. Sie werden uns nicht finden. Außerdem, wozu?
Das Einzige, das mir leid tut, ist die Sache mit den Bienenkästen. Das war völlig sinnlos und letztlich nur gegen mich selbst gerichtet. Manche Leute schlagen am Ende ein wenig um sich.
Wissen Sie übrigens, wie Bienen überwintern? Sie rücken in der Mitte des Stockes ganz eng zusammen und sie bewegen sich, ununterbrochen.
Dreiundzwanzig
Der Triumphmarsch aus ›Aida‹. Ein zweites und drittes Mal. Kovacs brauchte eine Zeit lang, bis er kapierte. Er stellte das Bierglas auf den Tisch und kramte in seiner Jackentasche. Schließlich fand er das Ding. Er klappte es auf. Horn war dran.
»Du meinst, sie hat geredet?
– Irgendwie beiläufig?
– Ein einziges Wort, sagst du?
– Ein Hauptwort mit Artikel?
– Noch einmal, ich versteh nicht.
– Bist du ganz sicher?
– Ja, ich hab verstanden, was sie gesagt hat: ›Der Honigmann‹.«
Er legte auf. Nach einer Weile griff er ans Glas und fuhr mit der Fingerkuppe eine Schaumspur entlang. Sie war nicht gefroren.
Das Licht über dem See hatte einen gelblichen Stich. Er saß da und wartete auf den Wind.
Über den Autor
Paulus Hochgatterer
Paulus Hochgatterer, geboren 1961 in Amstetten/Niederösterreich, lebt als Schriftsteller und Kinderpsychiater in Wien. Diverse Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Österreichischen Kunstpreis 2010. Bei Deuticke erschienen bisher: Über die Chirurgie (Roman, 1993, Neuauflage 2005), Die Nystenische Regel (Erzählungen, 1995), Wildwasser (Erzählung, 1997), Caretta caretta (Roman, 1999), Über Raben (Roman, 2002), Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen (Erzählung, 2003), Die Süße des Lebens (Roman, 2006), Das Matratzenhaus (Roman, 2010) und Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit (2012).
Auszeichnungen
2010 Johann Beer-Literaturpreis der Deutschen Bank und der Ärztekammer für Oberösterreich
2010 Österreichischer Kunstpreis für Literatur
2010 Preis der Stuttgarter Kriminächte
2009 Literaturpreis der Europäischen Union
2007 Deutscher Krimipreis
2001 Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien
2000 Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur
1998 Österreichischer Förderungspreis für Literatur
1995 Hans-Weigel-Stipendium
1995 Harder Literaturpreis
1994 Otto Stoessl-Preis
1991 Max-von-der-Grün-Preis
Bibliographie
Im Deuticke Verlag sind erschienen:
1993 Über die Chirurgie. Roman (Neuauflage 2005)
1995 Die Nystenische Regel. Erzählungen
1997 Wildwasser. Erzählung
1999 Caretta caretta. Roman
2002 Über Raben. Roman
2003 Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen. Erzählung
2006 Die Süße des Lebens. Roman
2010 Das Matratzenhaus. Roman
2012 Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit
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